Textsortenlinguistik
für den Fremdsprachenunterricht
Maria Thurmair (Regensburg)
Abstract
(English)
This paper explores the ways in which
a text linguistic approach based on empirical data can contribute to
language teaching methodology. After an overview of the most
pertinent methods used for the analysis of text genres, the paper
presents a novel concept that aims at integrating grammar
teaching and text-genre analysis, using the example of the passive
voice and its function in various, mainly evaluative text genres.
Keywords:
Text genres, grammar teaching, passive voice
Abstract
(Deutsch)
Im
folgenden Beitrag wird das Potential einer empirisch-induktiven
Textsortenlinguistik für den Fremdsprachenunterricht untersucht.
Nach einem Überblick über Verfahren der Textsortenanalyse wird das
neue Konzept einer textsortenbezogenen Grammatikarbeit am Beispiel
Passiv in verschiedenen, vor allem bewertenden Textsorten
exemplarisch vorgestellt.
Stichwörter:
Textsorten, Grammatikarbeit, Passiv
1 Zur Einführung
1.1 Textsortenbestimmung
Unter
dem Begriff Textsorte
wird im Allgemeinen eine Klasse von Texten verstanden, die als
konventionell geltende Muster bestimmten (komplexen) sprachlichen
Handlungen zuzuordnen sind (u.a. Brinker 2005: 144, auch Fandrych &
Thurmair 2011a: 13ff). Textsorten sind musterhafte Ausprägungen zur
Lösung wiederkehrender kommunikativer Aufgaben. Textsorten und die
ihnen zu Grunde liegenden ‚Textmuster‘ haben sich in den
verschiedenen Sprachgemeinschaften historisch entwickelt, um
spezifische kommunikative Aufgaben in der sozialen Handlungspraxis zu
bewältigen. Für die Produktion und Rezeption von Textsorten gelten
bestimmte kommunikative und sprachliche Regeln, die den Sprechern
geläufig, wenn auch nicht immer bewusst sind. Die (rezeptive und /
oder produktive) Kenntnis von Textsorten bzw. der mehr oder weniger
stark vorgeprägten Muster gehört zum Alltagswissen, stellt ein
wesentliches Element für kommunikativ erfolgreiches sprachliches
Handeln dar und ist ein wichtiger Baustein im Erwerb einer
umfassenden Sprachkompetenz – für Muttersprachler wie für
Fremdsprachler. Sprecher haben also eine (wenn auch unterschiedlich
umfangreiche) produktive wie rezeptive Textsortenkompetenz, auf
die man bei der Grammatikarbeit aufbauen kann.
Textsorten
unterscheiden sich erheblich in den Möglichkeiten zur Variation etwa
hinsichtlich der Textstruktur und / oder der konkreten sprachlichen
Ausgestaltung: Es lassen sich stark standardisierte Textsorten
wie Zeugnis,
Wetterbericht,
Haftbefehl
und offenere Textsorten wie Dankschreiben,
Geburtsanzeige
oder Tagebuch
unterscheiden. Außerdem unterliegen die einzelnen Textsorten
natürlich auch Veränderungen – in vielen Bereichen lassen sich
derzeit vielfältige Variationen konstatieren: Das liegt vor
allem an der Ausdehnung der schriftbasierten Kommunikation durch die
neuen Medien. Digitale Textsorten sind für Autoren wie Produzenten
räumlich und zeitlich immer umfassender zugänglich, d.h. viel
mehr Menschen kommen mit den unterschiedlichsten Textsorten
produktiv und rezeptiv in Berührung. So verändert sich zum Beispiel
die Textsorte Tagebuch
hin zum Weblog
bzw. Blog, der
Leserbrief
verändert sich zum Diskussionsforum
(dazu genauer Fandrych & Thurmair 2010). Bestimmte Textsorten
verändern sich, weil andere Autoren sie verfassen (nicht mehr nur
Fachleute), wie z. B. Rezensionen,
Kochrezepte,
Bedienungsanleitungen,
und schließlich entstehen gänzlich neue Textsorten bzw.
Kommunikationsformen (chats,
twitter
etc.). Hier ist also ein deutlicher Veränderungsschub zu
beobachten.
1.2
Beschreibungsdimensionen
In
der Text(sorten)linguistik ist man sich mittlerweile darüber einig,
dass eine Textsortenanalyse
verschiedene
Beschreibungsdimensionen
kombinieren muss, dazu gehören in jedem Fall die folgenden
drei:
Dimension, die situativ und kontextuell relevante Merkmale
berücksichtigt. Innerhalb der Kommunikationssituation sind
zu unterscheiden
- zunächst die Welt, in der Texte angesiedelt sind bzw. werden (von Adamzik (2004: 61ff) in die Diskussion gebracht) – etwa die Standardwelt, die Welt des Spiels / der Fantasie, die Welt des Übersinnlichen oder die Welt der Wissenschaft,
- der Kommunikationsbereich (manchmal auch Verwendungsbereich), wie etwa Verwaltung, Medizin, Wissenschaft,
- der mediale Aspekt (mündlich, schriftlich),
- der Textproduzent und -rezipient (wer produziert den Text für wen und / oder wer rezipiert den Text),
- Raum und Zeit (raumzeitliche Kopräsenz, Gültigkeitsdauer / „Verfallsdatum“, Ort der Produktion / Rezeption und der Aufbewahrung sowie die Zugänglichkeit),
- die kulturräumliche Gebundenheit.
(2011a: 29-33) von einem Modell ausgegangen, nach
dem sich die Funktionen drei großen Textgruppen
zuordnen lassen:
- wissensbezogene Texte,
- handlungsbeeinflussende und handlungspräformierende Texte und
- eine oft vernachlässigte Gruppe, nämlich die der expressiv-sozialen, sinnsuchenden Texte (s. Fandrych & Thurmair 2011a: 29-33).
Textsorten mit folgenden Funktionen:
- konstatierend-assertierende, wissensbereitstellende Funktion (zu finden etwa beim Lexikonartikel, in Einführungen; aber auch beim Wetterbericht oder Reiseführer),
- argumentative Funktion (wie im wissenschaftlichen Artikel, in Leserbriefen oder in themenbezogenen Diskussionsforen) und
-
bewertende
Funktion (zu finden etwa in Rezensionen,
Theaterkritiken,
Studienbewertungen,
Gutachten, oder Peer
Reviews).
b. Die handlungsbeeinflussenden Texte umfassen Textsorten mit u.a.
- instruktiver Funktion (Kochrezepte, Spielanleitungen, Bedienungsanleitungen, Horoskope),
- reglementierend-direktiver Funktion (Ordnungstexte, Gesetze, Satzungen),
- obligativ-sprecherbezogener Funktion (Verpflichtungen, Gelöbnisse, Wahlprogramme, Hochzeitsformeln),
- appellativer Funktion ((Werbe-)Anzeigen, politische Werbung, (politische oder humanitäre) Aufrufe),
- handlungsvorbereitender Funktion (Tagesordnungen,Programme, Exposés oder Skizzen) oder
- beratend-moralisierender Funktion (Beratungstexte oder Predigten).
umfasst etwa
- die expressiv-sinnsuchende Funktion (Tagebücher, Blogs, oder Reisenotizen),
- die kollektiv selbstvergewissernde Funktion (Wahlkampfreden, ritualisierte religiöse Texte (wie etwa Gebete) oder Fan-Liedertexte), sowie
- die phatische Funktion, aber auch
- die unterhaltend-spielerische und
- die ästhetische Funktion.
einen:
- die thematisch-strukturelle Ebene, auf der das Thema (bzw. der Inhalt) eines Textes bestimmt wird, darüber hinaus auch
- die je spezifische Textstruktur in makro- wie mikrostruktureller Hinsicht, d.h. Textarchitektur und interner Aufbau, thematisch-textuelle Progression bzw. Textorganisationsprinzipien sowie
- die Vertextungsstrategien
- die grammatisch-stilistische Ebene, die schließlich u.a. die konkrete sprachliche Ausgestaltung von Texten einer Textsorte, die syntaktischen Muster, und die lexikalische Gestaltung betrifft. Auf dieser Ebene zeigt sich die Musterhaftigkeit von Textsorten am besten.
Für
die textsortenbezogene Grammatikarbeit,
für die hier plädiert wird, ist nun bei den Kennzeichen der dritten
Ebene anzusetzen. Der Vorteil der textsortenbezogenen
Grammatikarbeit liegt darin, dass Phänomene der dritten Ebene, also
sprachliche und grammatische Phänomene, funktional erklärt werden
können, indem
Aspekte der ersten und zweiten Ebene, also Parameter der
Kommunikationssituation und die Textfunktion, strukturiert und
systematisch herangezogen werden. Textsorten in ihrer
Musterhaftigkeit schaffen einen kommunikativen Rahmen, innerhalb
dessen grammatische Strukturen ihre je spezifische Wirkung
entfalten. Auf diese Weise können grammatische und auch lexikalische
Phänomene in ihrer Funktionalität und der Typik ihres Auftretens in
ihrer ganzen Bandbreite umfassend beschrieben und erklärt werden.
Textsortenarbeit –
möglichst basierend auf größeren Korpora des Deutschen – zeigt
erst, was typische Verwendungsweisen und funktionale Nischen von
bestimmten sprachlichen Mitteln sind. Sie öffnet auch den Blick
für sprachliche Variation und damit für einen gewissen
Sprachrealismus. Solch ein Sprachrealismus ist ein dringendes
Desiderat, wie gerade von der Auslandsgermanistik immer wieder
gefordert wird.
In einer
textsortenbezogenen Grammatik sollten die jeweiligen Textsorten aber
nicht nur als Steinbruch für die Präsentierung und Erklärung
grammatischer Phänomene eingesetzt werden: Sie können – gerade
durch den möglichen Verweis auf den kommunikativen Rahmen – ein
fundierteres Verständnis für grammatische Strukturen schaffen.
Dafür sind zunächst grundsätzlich alle Textsorten und alle
grammatischen Phänomene geeignet. Bestimmte Textsorten sind aber der
natürliche Vorkommensort für bestimmte sprachliche Strukturen. Wie
spezifisch dieses Verhältnis ist, hängt natürlich vom
grammatischen Thema ab: Modalverben etwa lassen sich in viel mehr
Textsorten finden als z. B. das Zustandspassiv. Andere Phänomene
werden überhaupt erst beim Verweis auf bestimmte Textsorten
sichtbar: Ein wohlbekanntes Beispiel dafür ist etwa die starke
Adjektivdeklination, die – im Sprachvermittlungskontext – meist
in der Textsorte Anzeige
präsentiert wird (1). Man kann aber auch eine andere Textsorte
dafür heranziehen, etwa das Drehbuch (2) oder den Wetterbericht
(3).1
Beispiele:
1. Junges,
fröhliches Paar mit kleinem Kind sucht einsamen, rüstigen
Ersatzopa mit eigenem Auto.
2. Totale:
Schöner Herbsttag. Belebte städtische Straße.
Romantische Häuser. Eilige Passanten.
Halbtotale:
Kleines Café. Sonnige Terrasse.
Nah: Junge,
rothaarige Frau an kleinem Ecktisch.
5. Schwacher
bis mäßiger Wind aus West bis Südwest, im Norden teilweise
frisch, an der Nordsee auch stark mit stürmischen Böen. Im
Südosten Bayerns heute Nacht leichter Frost […]. Am
Mittwoch im Süden teils zähe Nebelfelder, teils freundliche
Abschnitte, im Norden hartnäckiger Regen. Donnerstag und
Freitag überall freundliches Hochdruckwetter.
Natürlich
sollte, wenn möglich, die textsortenbezogene Grammatikarbeit
spezifisch an die Adressaten angepasst werden und je nach
Textsorte stärker rezeptionsdidaktisch oder
produktionsdidaktisch ausgeweitet werden. Voraussetzung für einen
solchen Ansatz ist eine entsprechend fundierte Beschreibung einer
breiten Palette vielfältiger Textsorten. Hier gibt es noch
deutlichen Forschungsbedarf – gerade auch im Hinblick auf
stärker korpuslinguistische Untersuchungen (für einen ersten
Schritt vgl. die empirisch-induktive Untersuchung in Fandrych &
Thurmair 2011a).
2 Textsortenbezogene Grammatikarbeit am Beispiel des
Passivs
Im
Folgenden soll der hier
verfolgte textsortenbezogene Ansatz am Beispiel des Passivs
vorgestellt werden. Beim Passiv handelt es
sich um ein klassisches grammatisches
Thema, da es als grundsätzlich relativ
universale Kategorie immer Lehr- und Lerngegenstand im
Fremdsprachenunterricht ist, meist in einem fortgeschrittenerem
Erwerbsstadium. Relevant bei der Behandlung des Themas Passiv
im Fremdsprachenunterricht sind im Allgemeinen der
morphosyntaktische Aspekt, also die verschiedenen Bildungsformen
(Vorgangspassiv, selten Zustandspassiv, kaum je das
Rezipientenpassiv), und die syntaktischen Charakteristika
(schwierig insbesondere das sogenannte unpersönliche Passiv); häufig
wird dies zusammen mit den passivähnlichen Strukturen (also man,
sich lassen, -bar)
thematisiert. Als besonders problematisch für Lerner gelten (neben
grundsätzlichen Problemen wie der Wortstellung, die beim Passiv
immer die Verbklammer erfordert) das Zustandspassiv2
(und seine Abgrenzung zum Vorgangspassiv) sowie die Verbindung von
Passiv mit Modalverben.
Funktional
gesehen, spielt natürlich die semantische und textuelle Funktion des
Passivs eine zentrale Rolle. Das Passiv ist eine sprachliche
Konstruktion, mit der eine andere Blickrichtung eingenommen wird: Ein
Geschehen wird aus der Perspektive des Patiens vorgangsbezogen (beim
Vorgangspassiv) oder zustandsbezogen (beim Zustandspassiv)
dargestellt. Das Passiv bietet die Möglichkeit, die handelnde
Instanz, also das Agens, nicht zu nennen, was aus unterschiedlichen
Gründen erforderlich sein kann, etwa weil es aus dem Kontext
erschließbar und deshalb überflüssig ist, weil es unwesentlich
oder selbstverständlich ist oder weil es aus pragmatischen
Gründen nicht genannt werden soll (dazu ausführlich etwa Zifonun et
al. 1997: 1837-1850). Unter diesem funktionalen Aspekt – also der
Möglichkeit, das Agens nicht zu nennen, gegebenenfalls
verbunden mit einer Umkodierung der semantischen Rolle3
– können dann auch die sogenannten „passivähnlichen“
Strukturen mitgefasst
werden. Die Frage, wann dieser Perspektivwechsel,
den eine passivische Struktur anzeigen kann, relevant ist, ist
eine eminent textuelle Frage und insbesondere auch textsortengeprägt:
Die jeweilige Textsorte mit ihrem kommunikativen Rahmen bedingt
dann ein vermehrtes Auftreten von Passivkonstruktionen.4
Interessant
ist also die Frage, in welchen Textsorten die je spezifischen
Passivformen funktional sind. Nun lässt sich feststellen, dass
in neueren Grammatiken und auch Lehrwerken die früher üblichen,
rein formbezogenen Aktiv-Passiv-Transformationen kaum mehr eine Rolle
spielen, sondern dass vermehrt auch textuelle Charakteristika
berücksichtigt werden. Dies
bedeutet, dass Texte bzw. Textsorten verwendet werden, in denen das
Passiv funktional und frequent ist, und anhand derer die eigentliche
textgrammatische Funktion der veränderten Betrachterperspektive gut
anschaulich und nachvollziehbar gemacht werden kann. Allerdings ist
das Potential im Hinblick auf die Auswahl und die Arbeit mit
verschiedenen Textsorten – hier in Bezug auf das Passiv – bei
weitem noch nicht erschöpft.
Die
üblichen Textsorten, in denen das Passiv – oft konzentriert man
sich dabei auf das Vorgangspassiv – in Lehrwerken und Grammatiken
behandelt wird, sind einfache Sachtexte, also leicht fachliche
Textsorten, seltener (meist bei der Thematisierung von Passiv mit
Modalverben) auch instruktive Textsorten. Steinhoff (2011), die die
Vermittlung des Passivs in neueren Lehrwerken untersucht hat,
stellt bezogen auf die dafür verwendeten Textsorten fest, dass zu
fast 85 % Zeitungsartikel (Berichte über besondere
Geschehnisse, politischer Teil) eingesetzt werden und daneben
Sachtexte (Fachtexte 38,5 %), Gebrauchsanweisungen (31 %)
und (Koch-)Rezepte (23 %) vorkommen (Steinhoff 2011: 161f).
Frequent sind dann auch noch Merk- oder Checklisten beim
Zustandspassiv. Allerdings sei hier auch darauf hingewiesen,
dass die Texte nicht immer authentisch sind. An fachlich orientierten
Sachtexten lässt sich die Funktion des Passivs, nämlich ein
Geschehen vorgangs- oder zustandsbezogen darzustellen und
bestimmte (als allgemein gültig betrachtete oder überindividuell
relevant gesetzte) Sachverhalte oder Wissensbestände textuell in den
Vordergrund treten zu lassen, gut und adäquat zeigen.
Das gilt – nicht weiter
überraschend – auch für andere, in dieser Hinsicht vergleichbare
Textsorten, etwa wissenschaftliche Texte verschiedener Art (das
Passiv zählt bekanntermaßen zu den zentralen Charakteristika für
Wissenschaftssprache) und für viele Fachtexte, in besonderem
Maße etwa für die Textsorte Lexikonartikel
(vgl. dazu genauer Fandrych & Thurmair 2011a: 89-113). Das Passiv
bietet in dieser didaktisch übrigens nicht unergiebigen Textsorte
die Möglichkeit, den dargestellten Sachverhalt bzw. die vom
Lexikoneintrag bezeichnete Größe ganz in den Mittelpunkt zu
stellen und über den gesamten Text als strukturelles Thema
beizubehalten. Bezogen auf die Textstrukturierung, ermöglicht
es das Passiv zudem, das Stichwort bzw. Hyponyme
oder (in der Definition) Hyperonyme zum
Stichwort und anaphorische Pronomina als Subjekte durchgängig
in thematischer Position gegen Anfang des Satzes zu positionieren und
so die Textstruktur zu bestimmen; hierzu die folgenden
Textausschnitte aus verschiedenen Lexika.
Beispiele:
- Devisen [...] ausländische Zahlungsmittel, die an der Bank oder Börse zu bestimmten Wechselkursen verkauft werden. (Beispiel aus Fandrych & Thurmair 2011a: 112)
- Gewürze [...] Pflanzenteile, die zum Würzen von Speisen dienen. Sie werden frisch oder getrocknet verwendet. (Beispiel aus Fandrych & Thurmair 2011a: 113)
Nun sind die Sachtexte
und fachlichen Texte bzw. Textsorten funktional adäquat und
auch für den allgemeinsprachlichen Unterricht gut einsetzbar,
allerdings handelt es sich doch vor allem um rezeptiv relevante
Texte; auch sind diese nicht immer motivierend und adäquat, dann
nämlich, wenn Texte, die für eine schnelle Rezeption gemacht sind,
zu ausführlich behandelt werden (was z. B. für Kochrezepte
gilt). Für einen produktiven Umgang mit Passivkonstruktionen
werden in den Lehrmaterialien in den meisten Fällen lediglich
Transformationsübungen vorgeschlagen (z. B. infinitivische
Anweisungen eines Kochrezepts in beschreibendes Passiv umzuwandeln);
laut den Auszählungen bei Steinhoff (2011: 151) tauchen als
Übungsformen Transformationsübungen in 100 % der untersuchten
Lehrwerke auf, daneben Lückentexte und Markieren (von Passivformen),
aber recht selten (nur in 40 %) die Aufgabe, produktiv einen
eigenen Text zu verfassen.
Umfangreichere empirische
Textsortenanalysen machen aber deutlich, dass auch in anderen als den
erwähnten, eher
klassischen Textsorten die spezifischen Möglichkeiten des
Passivs funktional genutzt werden. Dabei handelt es sich durchaus um
Textsorten, die ein breiteres rezeptives und produktives didaktisches
Potential bieten. An anderer Stelle haben Fandrych & Thurmair
korpusbasiert bereits eine Textsorte analysiert, bei der das Passiv
vielleicht nicht unbedingt erwartbar ist: den Leserbrief
(Fandrych & Thurmair 2011a: 114-135). Leserbriefe sind – kurz
gefasst – intertextuelle Meinungstexte, in denen Leser auf Themen
und Meinungen, die in einer Zeitung oder Zeitschrift publiziert
wurden, reagieren. Die passivischen Strukturen (und andere
„passivähnliche“ bzw. unpersönliche Konstruktionen mit
man, lassen oder -bar) werden in der Textsorte Leserbrief zum einen
dazu eingesetzt, eigene Erfahrungen und Erlebnisse zu
verallgemeinern und so ihre argumentative Kraft zu erhöhen, zum
anderen nutzen Leserbriefschreiberinnen und -schreiber das Passiv
auch zur Schilderung von Gegenpositionen, die – gleichsam als Folie
für die eigene Meinung – keinem spezifischen Akteur zugeordnet
werden.
Beispiele:
- Oft wird nämlich übersehen, dass es nicht nur wichtig ist ... sondern auch ... (Beispiel aus Fandrych & Thurmair 2011a: 121)
- Es ist wohl leider wahr, dass Emanzipation am Erfolg im Beruf gemessen wird. (Beispiel aus Fandrych & Thurmair 2011a: 132)
- Teilweise wurden hier Daten von Erhebungen aus anderen Staaten auf deutsche Verhältnisse „umgerechnet“. (Beispiel aus Fandrych & Thurmair 2011a: 132)
Wie
die Belege zeigen, bleiben die so benannten Gegenpositionen häufig
vage und müssen nicht konkret belegt werden. Interessanterweise wird
hier also die Agensabgewandtheit des Passivs genutzt, um (attributiv
häufig schon als problematisch charakterisierte) abweichende
Meinungen und Fehleinschätzungen zu postulieren, die nicht
nachgewiesen werden müssen, vor deren Hintergrund aber die
eigene Gegenrede geradezu zu einer Notwendigkeit wird, was den
eigenen Leserbrief und die darin geäußerten Argumente und Thesen in
besonderem Maße legitimiert. Auf dieser Folie gewinnt die eigene
Argumentation also ein spezifischeres Profil. Dies lässt sich
im Sprachunterricht auf verschiedenen Niveaustufen produktiv wie
rezeptiv nutzen.
2.1 Bewertende Texte – Vorgangspassiv
Eine
m. W.
im Zusammenhang mit dem Passiv ebenfalls noch nicht oder wenig
beachtete Klasse von Textsorten liegt mit bewertenden Textsorten
verschiedener Art vor. Damit sei eine größere Gruppe von
Textsorten zusammengefasst, in denen zentral die Textfunktion
Bewerten, meist
gepaart mit einer wissensbereitstellenden,
konstatierend-assertierenden Funktion auftritt (zur Diskussion um die
Textfunktion ‚Bewerten’: Fandrych & Thurmair 2011a: 163ff und
die dort angegebene Literatur). Innerhalb der bewertenden Textsorten
kann man weiter nach den verschiedenen Objekten der Bewertung
unterscheiden (wissenschaftliche, geistige bzw. geistig-künstlerische
Leistungen, Dienstleistungen oder ganz konkrete Objekte) sowie
danach, welche Position der bewertende Text in einer
Handlungsabfolge einnimmt.
Während
vor der Zeit der digitalen Medien in den meisten Kontexten
Bewertungen, die allgemein einem größeren Leserkreis
zugänglich gemacht wurden, im Wesentlichen nur von professionellen
Bewertern oder entsprechenden Fachleuten verfasst wurden (also Buch-
oder Filmkritiken
von Kritikern, Hotel-
oder Reisekritiken
von Reisejournalisten, Beschreibungen und Bewertungen technischer
Geräte von Ingenieuren oder Experten des Verbraucherschutzes wie der
„Stiftung Warentest“), nimmt im Zeitalter der digitalen Medien
und des Austausches in sozialen Netzwerken die Erstellung bewertender
Texten aller Art exponentiell hinzu: Jedes Objekt, das gekauft wird –
von der Waschmaschine über den Wollpullover bis hin zum Buch –,
jede Dienstleistung, die in Anspruch genommen wird – vom Arztbesuch
bis zur Reise –, jedes immaterielle Ereignis – wie ein Film oder
ein Konzert – kann von jedermann allgemein zugänglich bewertet
werden.
Zu
den ehemals eher fachlich bzw. professionell orientierten
Bewertungstexten wie Rezensionen,
Kritiken
und Gutachten
kommen hier also von Laien verfasste Texte jeder Art, jeder
Komplexität und jeder Gestalt.5
Die Autorenschaft – und damit die Kommunikationssituation – haben
sich also deutlich geändert. Sprachlich gesehen, spielt die
Verwendung des Passivs in diesen Texten eine nicht zu unterschätzende
Rolle. Sie ist aus der Funktion der Textsorte gut zu erklären: Das
‚Bewertungsobjekt’ (sei es ein Text, wie in literarischen
Rezensionen oder wissenschaftlichen Gutachten, oder eine
Dienstleistung oder ein konkretes Objekt) steht textstrukturell im
Mittelpunkt; um dieses
einzuordnen und zu bewerten eignet sich dann das Passiv besonders
gut. Dies
erklärt die Verwendung des Passivs textstrukturell. Funktional ist
das Passiv von Vorteil, weil die Handelnden, die bewertet werden bzw.
deren Handlungen bewertet werden, je nach Bewertungstyp entweder
unwichtig sind, oder bewusst nicht genannt werden sollen oder
aus anderen Gründen ungenannt bleiben können.
Im Folgenden seien einige
Beispiele für das Auftreten von Vorgangspassiv und in Abschnitt 2.2.
für das Zustandspassiv aus verschiedenen Bewertungskontexten,
wie sie im Internet mittlerweile gang und gäbe sind, angeführt. Die
Belege werden in der Originalform wiedergegeben, können also auch
Abweichungen und Fehler enthalten (Hervorhebung: M.T.).
Beispiele:
- Baustelle vor dem Haus (auf Beeinträchtigungen wurde nicht hingewiesen) 2. Restaurantbetrieb war wegen Umbau geschlossen (Ersatzadressen wurden aber angeboten). 3. Fernsehempfang per Antenne war unzureichend (in meinem Zimmer), ständige Störungen 4. Veraltete Dusche (Vorhang) (http://www.booking.com/hotel/de/forsthauscon.de.html#tab-reviews; 11.12.2015)
- Die Zimmerreinigung erhält eine glatte 5 von 6 (ungenügend). In 14 Tagen wurde weder die Bettwäsche (wie im Zimmerservice angegeben) gewechselt, noch Staub gewischt. Die zahlreichen Spinnweben wurden erst nach Aufforderung entfernt. Die Reinigung der Dusche, incl. Armaturen und Ablagen ließen stark zu wünschen übrig. Ein kleiner Kühlschrank im Zimmer fehlt. Der im Zimmer vorhandene Fernseher war zeitweise nicht nutzbar. Leider wurde sich darum nicht ausreichend gekümmert.(http://www.booking. com/hotel/de/alfred-amp-otto.de.html#tab-reviews; 11.12.2015)
- Aber, sind ein paar Ameisen wirklich schlimm? Ansonsten sieht das Bad toll aus und es gibt jeden Tag frische Handtücher und es wird gut geputzt. (http://www.tripadvisor.de/ShowUserReviewsg580110-d577083-r177613165-Panviman_Koh_Chang_Resort-Ko_Chang_Trat_Province.html#; 11.12.2015)
- Der Herd funktioniert prima! […] Es wird kein Anschlusskabel mitgeliefert, deshalb ist es wichtig das Kabel am alten Herd abzuschrauben und gut isoliert in der Herdaussparung liegen zu lassen bis der neue Herd angeschlossen wird! Auch muss man darauf achten, dass Ceranfeld und Herd mitgenommen werden als eine Einheit!! Bei uns bedurfte es längere Diskussionen und Erklärungen bis beide Teile als ein Altgerät kostenlos mitgenommen wurden […] Also nicht beirren lassen: beides wird laut Otto mitgenommen!!!!! (https://www.otto.de/p/bosch-herd-set-hnd22vs57-a-48032 7415/#variationId=479169867-M48; 11.12.2015)
- Gestern nun kam ich von meiner Irland-Reise zurück, wo ich‘s noch einmal mit dem Velbinger probiert hatte. Trotz der neuesten Ausgabe von 2001 musste ich feststellen, dass viele Angaben nicht nachgeprüft wurden. So wird z. B. von einer Tour durch eine Fischräucherei berichtet, die seit über 5 Jahren nicht mehr durchgeführt wird. Im Schnitt sind die Preise 30-60 % höher als angegeben. (http://www.travelbooks.de/meinung/velbing.html;11.12.2015)
Die ersten drei Beispiele
(9)-(11) stammen von Hotelkritiken (verschiedener
Buchungsplattformen), in denen bestimmte Handlungen bewertet werden;
hier sind die konkret Handelnden im allgemeinen nicht relevant oder
auch nicht konkret zu benennen und werden deshalb durch die
Verwendung des Passivs ausgespart. Auch bei Beispiel (12)
(Bewertungsobjekt Herd und seine Lieferung) und Beispiel (13)
(Buchkritik) werden jeweils Handlungen oder unterlassene
Handlungen im Kontext des Bewertungsobjekts bewertet, bei denen
wiederum die Handelnden unbekannt und / oder irrelevant sind.
Selbstverständlich
sind die hier aufgezeigten Funktionen des Passivs, die sich aus den
Textsorten ergeben, nicht neu. Der Vorteil dieser Textsorten für
eine Beschäftigung mit dem grammatischen Thema Passiv
im Fremdsprachenunterricht liegt jedoch darin, dass sich hier
eine Vielzahl von motivierenden und authentischen Möglichkeiten auch
für die produktive Seite bietet: Man könnte Lernende in
Gruppenarbeit oder allein selbst Hotelkritiken verfassen lassen, man
kann dabei die Richtung der Bewertung (gut / schlecht) vorgeben, man
kann Rollen einnehmen lassen („der ewig meckernde Gast“ – „der
zufriedene Gast“), man kann andere Dinge bewerten lassen – aus
der Rolle der Lernenden oder aus einer anderen Rolle. Man kann auch
die Nicht-Nennung des Agens noch einmal separat aus der Textsorte
heraus motivieren mit einer Schreibanweisung wie „Sie sind
unzufrieden, wollen aber niemandem schaden“ o.ä. Hinzu kommt, dass
in Bewertungstexten dieser Art auch argumentative Sprachmittel geübt
werden können, ebenso die Negation (an negativen Bewertungen:
Was wurde alles nicht gemacht?)
und natürlich der entsprechende Wortschatz.
2.2 Bewertende Texte – Zustandspassiv
Das
Zustandspassiv als eine zusätzliche Variante im deutschen
Passivsystem stellt aus verschiedenen Gründen einen weiteren
schwierigen Aspekt beim Spracherwerb dar. Zum einen sind der Status,
der Stellenwert und die Erklärung des Zustandspassivs bereits
in der grammatischen Darstellung umstritten: Neben Auffassungen, die
entsprechende Formen gar nicht dem Passiv zuordnen würden,
sondern sie als Kopulakonstruktionen bezeichnen6,
divergieren auch die Analysen bei einer Einordnung als
Passivkonstruktion dahingehend, wie die Beziehung zwischen dem
Vorgangspassiv und dem Zustandspassiv beschaffen ist. Auf diese
Diskussionen kann hier nicht weiter eingegangen werden; die hier
vertretene Auffassung geht davon aus, dass es sich beim
Zustandspassiv um eine eigene Passivform handelt (gebildet mit dem
Hilfsverb sein),
die nur von Verben gebildet werden kann, die auch ein Vorgangspassiv
zulassen. Das Zustandspassiv (typische Konstruktionen etwa: die
Betten sind gemacht)
ist eine Form, die es erlaubt, das mit dem Verb bezeichnete Geschehen
als das Ergebnis einer Handlung, als Resultat mit „Vorgeschichte“
darzustellen. Genau in dieser „Vorgeschichte“ liegt dann u. E.
auch der Unterschied zu bedeutungsähnlichen
Kopulakonstruktionen wie etwa: Das
Fenster ist offen
– Das
Fenster ist geöffnet.
Wenn Lehrwerke für
Deutsch als Fremdsprache (DaF) das Zustandspassiv explizit
thematisieren, dann geschieht dies meist mit Textsorten wie
Merkzetteln (auch
Steinhoff 2011: 155ff) bzw. To-do-Listen,
etwa in der Art: „Was ist noch alles zu tun und was ist schon
getan?“: die Briefe sind geschrieben, die
Blumen sind gegossen, die Rechnungen sind bezahlt etc.
Eine weitere Möglichkeit
der Verwendung des Zustandspassivs liegt wiederum in bewertenden
Texten vor. Auch dort ist es funktional einleuchtend und deshalb
ergiebig, dass bestimmte Eigenschaften oder Zustände des bewerteten
Objekts bzw. das Objekt selbst mit Hilfe des Zustandspassivs
ausdrücklich als Resultat vergangener Handlungen gefasst werden und
sich daran bestimmte weitere – etwa bewertende – Handlungen
anschließen. Die Tatsache, dass dies auch meist mit einem wertenden
bzw. evaluativen Adverbial verbunden ist (ist
geschmackvoll eingerichtet, ist
toll gepflegt), ist didaktisch positiv zu
sehen, weil sich so mehr Anschlussmöglichkeiten bieten. Im Folgenden
seien wiederum einige Beispiele mit Formen des Zustandspassivs aus
sehr unterschiedlichen Bewertungstexten angeführt, zunächst vier
Hotelbewertungen (14)-(17).
Beispiele:
- Unser Zimmer und die für alle zugänglichen Bereiche waren individuell und geschmackvoll eingerichtet. (http://www.booking.com/hotel/de/alfred-amp-otto.de.html#tab-reviews; 11.12.2015)
- Der Notausgang im Dachgeschoss war verschlossen. (http://www.booking.com/hotel/pl/b-b-la-fontaine-krakow.de.html; 11.12.2015)
- Insgesamt sieht man der Anlage die permanente Pflege an. Alles grüne ist toll geschnitten und gepflegt. (http://www.tripadvisor.de/ShowUserReviews-g580110-d577083-r177613165-Panviman_Koh_Chang_Resort-Ko_Chang_Trat_Province.html#; 11.12.2015)
- Wir konnten die 1. Nacht nicht schlafen, da Panoramazimmer hinten auf dem 6. Stock, ueber uns Agregat der Klimaanlage.... Wasser in der Minibar wurde nicht nachgfuellt Abends Barriere vor der Bar...? Am Sonntag um 16 H war das Zimmer noch nicht gemacht.. (http://www.booking.com/hotel/de/zoo-berlin.de.html#tab-reviews; 11.12.2015)
In den Beispielen
(14)-(16) werden allgemeine Zustände als Resultat vorangegangener
Handlungen (Notausgang verschlossen, Zimmer
individuell eingerichtet, alles geschnitten und gepflegt)
benannt oder bewertet – und zwar sowohl im Präsens als auch
im (deutlich selteneren) Präteritum des Zustandspassivs. In
Beispiel (17) ergibt sich durch die Negation (…um
16 H war das Zimmer noch nicht gemacht) eine
durchkreuzte Erwartung, sie bewirkt einen „Erwartungsstopp“
(Weinrich 2003: 864ff).
Bei den folgenden Belegen
wird – in unterschiedlichen Zusammenhängen – ein immaterielles
Objekt, nämlich ein Text, bewertet. In allen Fällen handelt es sich
bei den Bewertungstexten also um reaktive Texte, die konstitutiv auf
andere Texte bezogen sind; sie unterscheiden sich allerdings
hinsichtlich der Einbettung in eine Handlungsabfolge.
Beispiele:
- Erzählt wird aus der Sicht von Lini, die ehemals im Grand-Hotel gearbeitet hat. Der Roman ist raffiniert geschrieben, die Autorin weiss die Worte spielerisch einzusetzen, (St. Galler Tagblatt; 18.04.1998)
- Dieser unterhaltsam geschriebene Reiseführer ist professionell bearbeitet und bestens gegliedert. Der Hauptteil („Kultur & Genuß“) führt in die Großstädte Aberdeen, Edinburgh und Glasgow, aber auch in kleine Dörfer und zur Inselgruppe der Hebriden.
Der zweite Teil („KulTouren“) ist für Autofahrer gedacht, die einzelne Ziele mit dem Fahrrad erreichen wollen. (Vorarlberger Nachrichten; 08.05.1999) - Die Fragestellung im Titel ist prägnant und eindringlich formuliert. (eigenes Korpus; dazu Fandrych & Thurmair 2011a: 158)
- Der Text ist logisch aufgebaut und gut gegliedert. (eigenes Korpus)
- Der empirische Teil der Arbeit ist methodisch reflektiert und äußerst problembewusst angelegt. (eigenes Korpus)
Die Beispiele (18) und
(19) stammen aus Buchrezensionen, in denen der erstellte Text (Roman
bzw. Reiseführer) als Resultat komplexer Handlungen der jeweiligen
Verfasser formuliert ist (ist geschrieben,
ist bearbeitet, ist
gegliedert) und entsprechend bewertet
wird (raffiniert geschrieben,
professionell bearbeitet.)
Ähnliches gilt für die Beispiele (20)-(22), die aus
Studienbewertungen – also Bewertungen von Studienleistungen
wie Seminararbeiten o.ä. (dazu genauer Fandrych & Thurmair 2011:
154ff) – stammen. Hier wird die zentrale bewertende Funktion
auch dadurch deutlich, dass die Formen des Zustandspassivs, mit
denen eben das Resultat entsprechender Autorenhandlungen
bezeichnet wird, obligatorisch eine Bewertung benötigen (zum
Vergleich: die Fragestellung ist formuliert,
der Text ist aufgebaut
etc.). Was die Position in der Handlungsabfolge betrifft, so werden
in diesen Studienbewertungen Leistungen in einem spezifisch
institutionell geprägten Handlungszusammenhang bewertet, und
zwar in einer Studien- bzw. Ausbildungssituation, die noch nicht
vollendet ist. Sie unterscheiden sich dadurch von den Textsorten
Rezension und
Gutachten.
Bei Rezensionen wie auch
bei Studienbewertungen ist das Agens bekannt und selbstverständlich,
deshalb kann es – mittels einer passiven Formulierung – unerwähnt
bleiben. In beiden Textsorten ist die Nennung des Agens allerdings
durchaus auch möglich und unmarkiert, bei den (literarischen)
Rezensionen erscheint der Autor des rezensierten Werkes dann in der
3. Person (Beispiel 18: die Autorin weiss die
Worte spielerisch einzusetzen), bei den
Studienbewertungen in der 2. Person (Beispiel 23 oder mit
Subjektschub Beispiel 24); die Verwendung der 2. Person – wie in
(23) – ist auf die spezifische Ausbildungssituation, in der
diese Texte verfasst werden, und die ‚belehrende‘ Intention des
Verfassers zurückzuführen (Gutachten von Abschlussarbeiten würden
so nicht formuliert).
Beispiele:
- Eine recht befriedigende Leistung. Sie beschreiben die deutschen Modalverben, dabei gelingt es Ihnen aber nicht immer, die zentralen Verwendungsweisen von marginalen abzugrenzen (eigenes Korpus).
- Die Arbeit verfehlt das Thema (eigenes Korpus).
Dass der Autor in diesen
Fällen bei der Bewertung eines Textes auch genannt werden kann,
unterscheidet literarische Rezensionen von Rezensionen von
Sachbüchern – wie etwa dem Reiseführer in Beispiel (13) –, bei
denen der Autor irrelevant ist und deshalb nicht erscheint.
Eine wiederum in Form und
Position in der Handlungsabfolge deutlich unterschiedliche
Bewertung von Texten liegt in den folgenden Textausschnitten vor.
Beispiele:
- Thema ist hervorragend bearbeitet. Über freistehende Überschriften ohne Text (die ja eher grobe Kapiteleinteilungen sind und das Thema somit besser strukturieren) und nicht eingedeutschte Karten kann ich mich nicht aufregen.
- (Diskussion: Belgische Revolution, Wikipedia 2011; http://de.wikipedia.org/wiki/Diskussion:Belgische_Revolution; 11.12.2015)
- Na ja, was will man hier erwarten... Amateure, die irgendeinen Lexikonartikel ab- oder umgeschrieben haben... Die Sekundärliteratur ist schlampert bearbeitet – nichtmal die Erscheinungsjahre stimmen – und offenbar nicht gelesen, sonst würden hier vielleicht auch mal die aktuellen Forschungsfragen angeschnitten (Diskussion: Simón Bolívar, Wikipedia 2011; http:// de.wikipedia.org/wiki/Diskussion:Simón_Bolívar; 11.12.2015)
Die Beispiele (25) und
(26) stammen aus Wikipedia-Diskussionen. Dabei handelt es sich
um die (Artikel-)Diskussionsseiten zu den einzelnen
Wikipedia-Artikeln, auf denen die Benutzer mit dem übergeordneten
Ziel der „Verbesserung der Wikipedia als Enzyklopädie“
miteinander über die Artikel diskutieren können. Es handelt sich
also um eine stark strukturierte schriftliche Diskussion, weshalb man
diese Texte generell den Diskussionsforen zuordnen kann (welche
ihrerseits wiederum breite Varianz aufweisen (Fandrych & Thurmair
2011a: 136ff). Die Bewertung der vorgelegten Artikel durch andere
Benutzer stellt einen wesentlichen Argumentationsschritt in der
gemeinsamen Diskussion dar. Formen des Zustandspassivs dienen auch
hier – wie bei den anderen (text)bewertenden Textsorten – dazu,
das Resultat komplexer Handlungen bei der Erstellung des diskutierten
Artikels zu benennen und zu bewerten. Dass hierfür eine passivische
Form verwendet wird, die es erlaubt, das Agens, also den
ursprünglichen Autor nicht zu nennen, ist wohl auch als
gesichtswahrende Strategie der Höflichkeit einzustufen. Man
vergleiche in dieser Hinsicht
Beispiel:
(26)
die
Sekundärliteratur ist schlampert bearbeitet […]
und offenbar nicht
gelesen
mit
Beispiel:
2.3 Passiv und Modalität
Im Zusammenhang mit dem
Passiv gilt die Kombination von Passiv und Modalität aus
formalen wie aus funktionalen Gründen als relativ komplex und im
Hinblick auf den Spracherwerb als schwierig. Auch für diese
Konstruktionen bieten sich aber einschlägige Textsorten an.
Naheliegend sind dafür instruktive Textsorten, bei denen
besonders Ordnungstexte hervorgehoben seien (Beispiele (27) und
(28)):
Beispiele:
(27)
Innerhalb des Zoologischen Gartens sollen sich die Besucher auf den
hierfür vorgesehenen Wegen und Plätzen aufhalten. Rasenflächen,
Pflanzbarrieren und Blumenrabatten dürfen
nicht betreten
und Pflanzen nicht beschädigt
werden. (Zoo-Ordnung, Leipzig; http://www.zoo-leipzig.de/zoo-ordnung/;
11.12.2015)
(28) Die in den Lesebereichen der
Bibliothek frei zugänglichen Monographien, Zeitschriftenbände bzw.
ausgelegten Hefte können von allen Benutzungsberechtigten
während der Öffnungszeiten der Bibliothek an Ort und Stelle benutzt
werden. Die Bücher und Zeitschriften dürfen nach
Gebrauch nicht eingestellt werden, sondern müssen
auf bereitstehenden Bücherwagen abgelegt werden. (Hausordnung
Zentrale Hochschulbibliothek Lübeck; http://www.zhb.uni-luebeck.
de/hausord.htm; 11.12.2015)
In diesen Ordnungstexten
verbinden sich die Modalverben mit dem werden-Passiv,
das hier – wie öfter in instruktiven Texten – dazu dient, auf
unpersönliche Art die Allgemeinheit der Reglementierung
auszudrücken. Hier kommen auch die kontrastiv so schwierigen
Modalverben müssen
und sollen – ebenso
in negierter Form nicht dürfen
und nicht können –
vielfältig vor.
Eine weitere, wenig
beachtete Konstruktion, die passivisches Genus mit Modalität
verbindet, ist die ist zu-Konstruktion.
Weinrich (2003: 163ff) bezeichnet sie – m.E. sehr treffend –
als Modalpassiv. Die wenigen Aussagen, die sich etwa in Grammatiken
zu dieser Konstruktion finden, sehen sie eher mit instruktiver
Bedeutung, also meist mit müssen-Modalität
(wie in einem klassischen Beispiel: die
Rechnung ist zu bezahlen
die Rechnung muss
bezahlt werden); so auch in den beiden
Beispielen (29) und (30), die wiederum aus Ordnungstexten stammen:
Beispiele:
- Weisungen der Mitarbeiter des Zoologischen Gartens zur Aufrechterhaltung des Zoobetriebes oder zur Durchsetzung der Gartenordnung ist Folge zu leisten. (http://www.zoo-leipzig.de/zoo-ordnung/; 11.12.2015) den Weisungen muss Folge geleistet werden
- Abfälle sind in die dafür vorgesehenen Behälter zu bringen und dürfen nicht in Abflußbecken, Toiletten und dergleichen geworfen werden. Auf korrekte Mülltrennung ist zu achten. (Hausordnung Studentenwohnheim Augsburg; www.studentenwerk-augsburg.de/wohnen/hausordnung.pdf; 11.12.2015) Abfälle müssen … gebracht werden
auf korrekte Mülltrennung muss geachtet werden
Vergleicht
man nun diese Konstruktionen in ihrem textsortenspezifischen
Vorkommen in den Ordnungstexten, die im Allgemeinen eine
müssen-Modalität
bedingen, mit dem Vorkommen in bewertenden Texten, so zeigt sich dort
eher eine können-Modalität,
wie in folgenden Beispielen, die entweder die reine Möglichkeit (ist
zu hören)
oder eine adverbial bestimmte Disposition – ist
schnell
zu erreichen,
ist
leicht
zu finden
– angeben. Dies ist dann von den jeweiligen Verben abhängig8.
Beispiele:
- Die unmittelbare Nähe zum Wannsee ist ideal und die Innenstadt Berlin ist sehr schnell zu erreichen.(http://www.booking.com/hotel/de/hotel-bonverde. de.html; 11.12.2015)
kann (schnell) erreicht werden - Auch durch die geschlossenen Fenster war der Zugverkehr zu hören, manchmal wackelten die Fenster.(Hotel Bonverde. Berlin; http://www.booking.com/hotel/de/hotel-bonverde.de.html; 11.12.2015)
konnte gehört werden - Das Hotel liegt eingebettet von viel Grün direkt am Wasser. Die sehenswürdigkeiten von Potsdam und Berlin sind mit dem PKW gut zu erreichen.(http://www.booking.com/hotel/de/forsthauscon.de.html#tab-reviews; 11.12.2015)
können (gut) erreicht werden - Die Klimaanlage ist zu hören, aber in der „Low“-Stellung für den Ventilator kann man trotzdem schlafen.(http://www.tripadvisor.de/ShowUserReviews-g580110-d577083-r177613165-Panviman_Koh_Chang_Resort-Ko_Chang_Trat_Province .html#; 11.12.2015) kann gehört werden
Die im Modalpassiv nicht
genauer ausbuchstabierte Modalität kann also durch die jeweilige
Textsorte und ihre Funktion spezifischer bestimmt werden. Für den
konkreten Sprachunterricht ist das Modalpassiv allerdings nicht so
relevant und sollte eher konstruktionsgrammatisch in Form typischer
Wendungen erworben werden.
3 Fazit: Methodische und didaktische Überlegungen
Eine
textsortenbezogene Grammatik, wie sie im Vorangegangenen an
Beispielen aus dem Bereich des Passivs umrissen wurde, kann
sowohl stärker formorientiert als auch funktionsorientiert
vorgehen. So ließen sich auch andere klassische grammatische Themen
wie Attribution oder
Tempus anhand von
Textsorten gut und funktional adäquat erklären. Eine
textsortenbezogene Grammatik kann aber auch stärker funktional
vorgehen: Man kann z. B. die funktionale Kategorie
Instruktionen, ihre
Funktion und die Möglichkeiten der Form oder ein Thema wie
Raumbezogene Orientierung
am Beispiel verschiedener Textsorten erarbeiten.
Für
eine umfassende textsortenbezogene Grammatik stellt sich methodisch
schließlich noch generell die Frage, wie man zu den Textsorten und
den jeweiligen sprachlichen Strukturen findet bzw. umgekehrt,
wie man die für eine bestimmte grammatische Struktur typischen
Textsorten ermittelt. Nach meinem
Dafürhalten kann man hier nur
empirisch-induktiv vorgehen; notwendig ist also eine möglichst
breite Palette von Textsortenanalysen. In Fandrych & Thurmair
(2011a) wurde versucht, ausgewählte Textsorten auch im Hinblick auf
ihre sprachlichen Strukturen zu analysieren, und dabei wurden
Textsorten aus dem ganzen Funktionsspektrum ausgewählt – aus
möglichst unterschiedlichen Kommunikationsbereichen, in medial
unterschiedlicher Form etc. Dieser empirisch-induktive Weg über die
diversen Textsorten kann natürlich punktuell ergänzt werden, indem
man ausgehend von einem bestimmten Phänomen authentische Belege
zusammenstellt und dadurch zu typischen Textsorten kommt.
Was
den didaktischen Mehrwert einer textsortenbezogenen Grammatikarbeit
betrifft, so sollte folgendes deutlich geworden sein:
Eine
textsortenbezogene Grammatik kann sprachliche Mittel wirklich in
Funktion zeigen. Sie kann die Beschreibungsdimensionen der Textsorten
heranziehen, um die Verwendung verschiedener sprachlicher Mittel zu
erklären. Kommunikativer
Sprachunterricht soll Sprache in Funktion zeigen und grammatische
Strukturen insbesondere im Hinblick auf ihre kommunikative Funktion
vermitteln. Hier können textsortenorientierte Ansätze großes
Potenzial entfalten. Da die sprachliche Ausgestaltung von konkreten
Textsorten überwiegend aus ihren kommunikationssituativen und
funktionalen Charakteristika heraus erklärt werden kann und –
umgekehrt betrachtet – die Auswahl bestimmter sprachlicher
Möglichkeiten (etwa grammatischer Strukturen) den spezifischen
Zwecken und Charakteristika der Textsorte geschuldet sind,
eignen sich Textsorten auf ausgezeichnete Weise dazu,
sprachliche Mittel in Funktion für den Lerner sichtbar zu machen und
zu vermitteln. Hier liegt der Ansatzpunkt einer pädagogischen
(Text-)Grammatik für wirklich kommunikative Spracharbeit, denn die
meisten der üblicherweise eher kontextuell losgelöst behandelten
grammatischen Themen lassen sich textsortenspezifisch und damit
funktional und situativ eingebettet adäquat im Unterricht
bearbeiten.
Eine
textsortenbezogene Grammatik arbeitet mit authentischem Material, und
öffnet damit auch den Blick für sprachliche Variation und somit für
einen gewissen Sprachrealismus.
Textsortenbezogene
Arbeit kann für differenziertes Fertigkeitstraining genutzt werden.
Konkret ließen sich ja auf der Basis all der Beobachtungen, die im
Vorangegangenen geschildert wurden, Übungen entwerfen, die
rezeptives und produktives Textsortenverständnis trainieren.
Schließlich
haben Textsorten eine kulturelle Dimension, d. h Textsorten und ihre
kulturellen Unterschiede (und Ähnlichkeiten) können ein
gewinnbringender Ausgangspunkt für eine Landeskunde sein, die
besonders für diejenigen kulturellen Aspekte sensibilisieren
will, die sich textuell manifestieren.
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1 Bei den Beispielen (1) bis (3) handelt es sich um von mir selbst konstruierte Texte.
2 Das Zustandspassiv als weitere Passivvariante existiert in vielen Sprachen in dieser
Form nicht und wird oft (auch in DaF-Lehrwerken) nicht als Passiv, sondern als
Kopulakonstruktion beschrieben.
3 Natürlich
kann das Agens auch in Passivkonstruktionen genannt werden – dies
ist aber der wesentlich seltenere Fall (nach Eroms (2000: 394)
lediglich in 13% der Passivkonstruktionen) – und hat außerdem dann
wiederum ganz spezifische textuelle und text- bzw.
informationsstrukturelle Implikationen.
4 Übrigens
ist das Passiv auch ein sehr gutes Beispiel für die Visualisierung
von Grammatik, da eben genau die veränderte Betrachterperspektive
entsprechend gut dargestellt werden kann; das beginnt schon bei den
Darstellungen im Lehrwerk „Deutsch Aktiv Neu“ (der Koch schält
die Kartoffel / Die Kartoffel wird geschält mit jeweils
unterschiedlichem Bildausschnitten; Neuner et al. 1991: 86), geht
über die Visualisierung anderer Tätigkeiten bis hin zu Sun͂er
Mun͂oz (2013), der die Idee des unterschiedlichen Fokus in medial
neuerem Gewand in Form einer Grammatikanimation darbietet. (Zu
weiteren, auch kritischen Aspekten in der Visualisierung: Steinhoff
2011: 183-205)
5 Dass
diese Texte manchmal auch von dafür bezahlten Laien verfasst werden,
spielt hier für die sprachliche Analyse keine Rolle.
6 Dies
ist dann auch bei denjenigen Lehrwerken und Grammatiken anzunehmen,
die das Zustandspassiv gar nicht erwähnen.
7 Die
Wikipedia-Diskussionen, die im Korpus DeReKo des IDS erfasst sind,
weisen allerdings eine breite Varianz sowohl in der Sprache im
Kontinuum zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit auf als
auch in der Anwendung bzw. Nicht-Anwendung von
Höflichkeitsstrategien.
8 Bei
den „Modalpartizipien“ ist dies ebenso: eine gut zu lesende
Arbeit (
Können-Modalität), nachzuweisende Kosten (
Müssen-Modalität) (genauer in Thurmair 2013).