Mehrsprachigkeit an der Grenze –
Grenze der Sprachdidaktik
Wolfgang Bufe (Saarbrücken)
Cet
homme (un barbier) parle quatre langues […]. Voici son histoire. Il
est né à Aix-la-Chapelle, et parle allemand. L’empereur en a fait
un français et l’empire un soldat, il parle français. Les
espagnols en 1811 l’ont fait prisonnier, il parle espagnol. Il
s’est marié dans le pays et a épousé une bas-quaise,
comme il dit. Il parle basque. Voilà ce que c’est que d’avoir
des aventures en quatre langues différentes.
(Victor
Hugo (1910: 324): De Bayonne à Saint-Sébastien.)
A
melhor forma de aprender uma nova língua é “por aquisição”,
ou seja, desenvolvendo habilidades funcionais através de assimilação
natural, intui-tiva e inconsciente em interação. Exatamente como as
crianças fazem.
(Catarina
Madeira (2013: 2): As
vantagens de ser bilingue ̶ De forma natural.
2013)
Abstract
(français)
L'interaction
entre différentes langues en région frontalière se voit confrontée
à une séparation considérablement hermétique des langues dans le
cursus scolaire. L'objet de notre contribution sera de chercher des
alternatives permettant de remédier à cette situation. Dans une
perspective d’écologie linguistique, on fournira la preuve qu'un
multilinguisme entrecroisé peut se montrer plus efficace dans
l'apprentissage qu'une approche isolée des différentes langues. En
dehors de la région frontalière, le multilinguisme se
rencontre aujourd'hui également au sein même de l'école chez les
migrants. Notre contribution présentera un modèle d'acquisition des
langues qui, en combinant d'une manière fonctionnelle les domaines
scolaire, parascolaire et médiatique, permettra de libérer un
potentiel synergétique pouvant aboutir à la compétence d’un
multilinguisme fonctionnel.
Mots-clés:
Région
frontalière, écologie linguistique, multilinguisme entrecroisé,
migrants, modèle d’acquisition des langues, domaines scolaire,
parascolaire et médiatique, multilinguisme fonctionnel
Abstract
(Deutsch)
Dem
intersprachlichen Austausch in Grenzgebieten steht nicht selten eine
nachgerade hermetische Trennung der betreffenden Sprachen in
schulischen Lehrplänen gegenüber. Ziel des vorliegenden
Beitrags ist es, nach Alternativen Ausschau zu halten, die in dieser
Situation zu einer gewissen Abhilfe führen können. Aus der
Perspektive der Sprachökologie wird der Beweis dafür geliefert,
dass eine integrierte Mehrsprachigkeit im Rahmen des
Sprachlernprozesses effizienter sein kann als ein die verschiedenen
Sprachen trennender Ansatz. Abgesehen von Grenzregionen ist
Mehrsprachigkeit heutzutage – bedingt durch die Migration – auch
innerhalb ein und derselben Schule anzutreffen. Daher wird im
vorliegenden Beitrag ein Spracherwerbsmodell entwickelt, das in
funktionaler Kombination des schulischen, außerschulischen und
medialen Bereiches die Freisetzung eines Synergiepotentials
gestattet, durch das eine funktionale Mehrsprachigkeit realisiert
werden kann.
Stichwörter:
Grenzgebiete, Sprachökologie, integrierte Mehrsprachigkeit,
Migration, Spracherwerbsmodell, schulischer, außerschulischer
und medialer Bereich, funktionale Mehrsprachigkeit
1 Einführung
1.1 Aktualität der Mehrsprachigkeit
Gleich
vier bahnbrechende Werke, die in diesem Jahr erschienen sind, einmal
die psycholinguistische Veröffentlichung von Michèle Kail
L’acquisition
de plusieurs langues,
das Werk des Parisers François Grosjean Parler
plusieurs langues,
das u.a. über Erfahrungen in der mehrsprachigen Schweiz berichtet,
wie auch der Sammelband von Markus Weil & Manuele Vanotti
Weiterbildung
und Mehrsprachigkeit
– Formation
continue et plurilinguisme –
Further
education and plurilingualism1
und
der Sammelband (Se)
construire dans l’interlangue, perspectives transatlantiques
sur le multilinguisme vonf
Bonnet-Falandry, St. Durrans & M. Jones sowie in einem weiteren
Kontext das Werk von Dietrich Wunderlich Sprachen
der Welt
– alle weisen auf die Aktualität des Themas Mehrsprachigkeit
hin. Dass das Thema natürlich schon viel älter ist, zeigt u.a. das
EuroCom-Projekt (zu den Anfängen; Klein & Stegmann 2000), sowie
die beiden von der Gesellschaft für Angewandte Linguistik
herausgegebenen Bände Mehrsprachige
Individuen –
vielsprachige Gesellschaften
(Wolff 2006) und Mehrsprachigkeit
am Arbeitsplatz (Kameyama
& Meyer 2007).
Im Unterschied zu dem in erster Linie die Sprachrezeption fördernden EuroCom-Projekt möchten wir gemäß der von Waltraud Bufe und mir seinerzeit an der Saarbrücker Romanistik begonnenen Mehrsprachigkeitsdidaktik (Bufe & Bufe 2005) den Akzent auf die gesamte mündliche Kommunikation unter besonderer Berücksichtigung der Sprachproduktion legen.
Im Unterschied zu dem in erster Linie die Sprachrezeption fördernden EuroCom-Projekt möchten wir gemäß der von Waltraud Bufe und mir seinerzeit an der Saarbrücker Romanistik begonnenen Mehrsprachigkeitsdidaktik (Bufe & Bufe 2005) den Akzent auf die gesamte mündliche Kommunikation unter besonderer Berücksichtigung der Sprachproduktion legen.
1.2 Aktionsfeld
Die
nachfolgenden Ausführungen beruhen auf verschiedenen
Sprachexkursionen ins nahe Grenzland, vor allem Lothringen, aber
auch Belgien und die région parisienne,
sowie Besuchen bei portugiesischen Migranten in Kaiserslautern
und Pont-à-Mousson, einschließlich eines Sprachaufenthaltes in
Nordportugal. Im Wesentlichen ging es um Hochschulstudenten,
aber auch um eine Schulklasse von Sprachanfängern an der
französisch-belgischen Grenze im Raum Sedan. Hinzu kommen
Erfahrungen mit der jeweiligen Lehrerfortbildung vor Ort, so z.B. im
Berry Sud oder in
Südtirol. Schließlich sei erwähnt, dass wir auch innerhalb des
betriebsinternen Fremdsprachenunterrichts das Lernen vor Ort
integriert haben.
1.3 Zielsetzung des Beitrags
Ziel
unseres Beitrags ist die Vorstellung eines Spracherwerbsmodells, das
den schulischen, außerschulischen und medialen Bereich funktional in
der Weise miteinander verbindet, dass ein synergetisches Potenzial
für eine funktionsfähige Mehrsprachigkeitskompetenz
freigesetzt wird.
2 Die Notion Grenzkompetenz
Besonders
in einer Grenzregion erfährt man tagtäglich das Nebeneinander
unterschiedlicher Sprachen und Dialekte. Für den Saar-Lor-Lux-Raum
bedeutet dies ein Nebeneinander der Sprachen Deutsch, Französisch
und Fränkisch. Hinzu kommen Migrantensprachen wie Italienisch,
Portugiesisch, Türkisch und Arabisch neben weiteren geringer
verbreiteten Sprachen, wie z. B. Albanisch. Besonders reizvoll
in diesem Zusammenhang ist die Beobachtung des unterschiedlichen
Verhaltens ein und derselben Migrantengruppe, je nachdem ob sie im
deutschen oder im französischen Grenzland angesiedelt ist, wie z. B.
die Portugiesen in Kaiserslautern und in Pont-à-Mousson. Durch die
Flüchtlingsströme erfährt vor allem das Arabische in jüngster
Zeit eine erhebliche Verstärkung. Vergleichen wir die Sprachen
miteinander, so kommt ihnen jeweils ein unterschiedliches
Sozialprestige zu. So hat etwa das Moselfränkische in der Region
Thionville ein geringeres Ansehen als die entsprechende
Nationalsprache in Luxemburg. Auch werden die Migrantensprachen
im Unterschied zu ihren Herkunftsländern in der Regel niedriger
eingeschätzt. Diesem komplexen Sprachenangebot in der Region steht
ein äußerst eingeschränktes Sprachenangebot in der Schule
gegenüber. Es gliedert sich in verschiedene Fächer, die weitgehend
isoliert voneinander sind. Die hierarchisierende Formulierung:
1., 2., 3. Fremdsprache spricht dabei für sich. Das
Mehrsprachigkeitsangebot in der Grenzregion deckt sich also kaum mit
dem schulischen Angebot. Der Interaktion zwischen verschiedenen
Sprachen im Grenzbereich steht eine weitgehende hermetische
Trennung der Sprachen im fixierten Fächerkanon gegenüber.
Gehen wir mit Dalgalian (2000: Kap. 5) davon aus, dass die Nutzung
des Umfeldes eine unabdingbare Voraussetzung für den Spracherwerb
allgemein und die Erreichung einer Mehrsprachigkeit im Besonderen
ist, so fehlt bei der schulischen Vermittlung eine wesentliche
Voraussetzung für den Spracherwerb generell, nämlich die Nutzung
des environnement oder,
anders formuliert: Es fehlt die territoriale Verankerung der
Sprachen. Ziel unseres Beitrags soll es nun sein, danach zu fragen,
welche Möglichkeiten es gibt, die Trennung zwiischen
schulischem und außerschulischem Spracherwerb zu überwinden,
zumindest abzumildern. Hierbei sollen zum einen einmal die Grenzen
eines schulisch erworbenen, selbstbefangenen Fremdsprachenerwerbs
aufgezeigt, zum anderen soll die Beobachtung grenznaher
Mehrsprachigkeit als Herausforderung für den schulischen
Spracherwerb begriffen werden. Der schulische Spracherwerb ist
autoreferentiell; er
scheint sich in einer einseitigen Form der Mediatisierung der Sprache
weitgehend losgelöst vom Geschehen im Zielland – abzuspielen. Die
Ausdrücke Schulfranzösisch
und Schulenglisch sprechen
für sich. Man könnte einwenden: Gerade der schulische
Fremdsprachenunterricht habe die Aufgabe, die Sprachen gleichsam
exterritorial zu vermitteln. In dem Sinne etwa: Sprachen kann man ja
überall lernen. Dass das nicht der Fall sein kann, soll im Folgenden
gezeigt werden.
2.1 Interkulturelle Präsenz im Klassenraum
Die Auflösung der
Grenzen sowie die Anwesenheit von Schülern aus den
unterschiedlichsten Ländern in ein und derselben Klasse macht eine
Neuorientierung der Sprachpädagogik erforderlich. Es grenzt an
Vermessenheit, das multilinguale Angebot außerhalb und innerhalb der
Schule brach liegen zu lassen oder es in einem latenten Zustand zu
belassen. Natürlich sind die Sprachen auch dann präsent, wenn
sie nicht eigens thematisiert werden. Dalgalian hat dieses Problem
klar gesehen, wenn er fordert:
La levée du tabou « Pas de référence à vos langues » est un préalable absolu à tout développement cognitif. Le monolinguisme scolaire, pratique dominante, n’est pas une option éducative, c’est un handicap idéologique. En outre, ce tabou n’est jamais totalement suivi d’effet. Pourtant, si peu efficace que soit ce tabou du fait des transferts inconscients que l’élève ne peut s’empêcher de faire, il freine lourdement les apprentissages, induit des comportements aberrants et empêche les bonnes stratégies de se mettre en place. (Dalgalian 2012 : 146)
Die Feststellung
Dalgalians konnten wir auch bei eigenen Lehrerfahrungen bestätigt
finden. So konnten wir vielfach beim Deutschunterricht im grenznahen
Sarreguemines die Erfahrung machen, dass afrikanische, italienische
oder syrische Kinder den Franco-Français
im Deutschlernen überlegen sind, weil sie
die Ressourcen ihrer Mehrsprachigkeit beim Einzelsprachenerwerb, hier
dem Deutschen, einbringen können. Der Einfluss ihrer jeweiligen
Muttersprache konnte schön an entsprechenden Interferenzen im
Deutschen abgelesen werden.
Die zu vermittelnden Zielsprachen müssen nicht künstlich – gleichsam im Medienverbund – verfügbar gemacht werden: Sie sind an der Grenze und in multikulturellen Klassen hautnah verfügbar. Warum sollte ein solches Potenzial nicht genutzt werden? Wir möchten für die Ablösung eines lehrerzentrierten Unterrichts durch eine auf Begegnung zielende Sprachdidaktik plädieren. Die Potenziale der schulintern als auch schulextern vorhandenen Sprachen sollen als Zuträger für die Vermittlung der einzelnen Schulsprachen aktiv genutzt werden.
Die zu vermittelnden Zielsprachen müssen nicht künstlich – gleichsam im Medienverbund – verfügbar gemacht werden: Sie sind an der Grenze und in multikulturellen Klassen hautnah verfügbar. Warum sollte ein solches Potenzial nicht genutzt werden? Wir möchten für die Ablösung eines lehrerzentrierten Unterrichts durch eine auf Begegnung zielende Sprachdidaktik plädieren. Die Potenziale der schulintern als auch schulextern vorhandenen Sprachen sollen als Zuträger für die Vermittlung der einzelnen Schulsprachen aktiv genutzt werden.
2.2 Mehrsprachigkeit in der Sprachrezeption am Beispiel Hörverstehen
In
diesem Zusammenhang soll das Verhältnis von
Mehrsprachigkeitsdidaktik und „Grenzdidaktik“ erörtert werden.
Aus unserer Sicht artikuliert sich die Mehrsprachigkeitsdidaktik
(didactique du plurilinguisme im
Französischen) zu einseitig an den Sprachen per
se. Ihr fehlt die territoriale und soziale
Verankerung, wie sie beispielhaft in Grenzräumen, aber auch in
mehrsprachigen Gesellschaften erfahren werden kann. Es kann nun
natürlich nicht darum gehen, einfach mehrere Sprachen an die Stelle
eines überschaubaren Sprachenkanons zu stellen. Vielmehr wäre
der Nachweis im Sinne einer Sprachenökologie zu erbringen, dass
eine vernetzte Mehrsprachigkeit zielführender für den
Fremdsprachenerwerb allgemein sein kann, als ein alleiniger Zugang
über Einzelsprachen. Dies soll am Beispiel Hörverstehen kurz
erläutert werden.
Aus der akustischen Phonetik wissen wir, dass jede Sprache einen bestimmten Frequenzbereich hat. Durch die Verabsolutierung einer einzigen Sprache wird aber das lautlich-intonatorische Spektrum in der Weise eingeschränkt, dass die ursprünglich vorhandene lautsprachliche Bandbreite der Lerner erheblich limitiert wird. Die durch unterschiedliche Frequenzen und unterschiedliche Anzahlen von Phonemen gekennzeichneten Sprachen liefern ihrerseits jene Bandbreite, die wiederum für die Wahrnehmung von Einzelsprachen von hohem Nutzen sein kann – ein gewichtiges Argument für den Einsatz mehrerer Sprachen zur Optimierung der Sprachkompetenz generell. Dies gilt sinngemäß auch für die diatopischen und diaphasischen Varianten ein und derselben Sprache. Ein vorwiegend an der normativen Schulsprache trainierter Lerner hat nicht umsonst erhebliche Schwierigkeiten, sprachliche Varietäten, wie z. B. den accent parisien, überhaupt zu erkennen.
Aus der akustischen Phonetik wissen wir, dass jede Sprache einen bestimmten Frequenzbereich hat. Durch die Verabsolutierung einer einzigen Sprache wird aber das lautlich-intonatorische Spektrum in der Weise eingeschränkt, dass die ursprünglich vorhandene lautsprachliche Bandbreite der Lerner erheblich limitiert wird. Die durch unterschiedliche Frequenzen und unterschiedliche Anzahlen von Phonemen gekennzeichneten Sprachen liefern ihrerseits jene Bandbreite, die wiederum für die Wahrnehmung von Einzelsprachen von hohem Nutzen sein kann – ein gewichtiges Argument für den Einsatz mehrerer Sprachen zur Optimierung der Sprachkompetenz generell. Dies gilt sinngemäß auch für die diatopischen und diaphasischen Varianten ein und derselben Sprache. Ein vorwiegend an der normativen Schulsprache trainierter Lerner hat nicht umsonst erhebliche Schwierigkeiten, sprachliche Varietäten, wie z. B. den accent parisien, überhaupt zu erkennen.
2.3 Mehrsprachigkeit und Migration
Eine andere Überlegung
zugunsten der Notwendigkeit eines mehrsprachigen Zugriffs der
Sprachvermittlung ist der Umstand, dass die Mehrsprachigkeit in Form
der vorhandenen Sprachenlerner selbst bereits weitgehend integraler
Bestandteil der heutigen schulischen Wirklichkeit ist, in der auch
hier die Globalisierung voranschreitet. Dieses Potenzial gilt es
interkulturell zu nutzen. Hier wird sichtbar, dass eine
Sprachdidaktik zu kurz greift, wenn sie die vielfältigen Situationen
der Migrantensprachen einfach ausblendet. Zurecht bemerkt Dalgalian:
Au-delà des langues régionales, il faut prendre en compte, avec sérieux et compétence, la présence dans les classes, d’enfants issus d’une immigration récente ou ancienne. (Dalgalian 2012: 87)2
Ähnlich argumentiert
Maria Cecilia Luise von der Universität Florenz:
[...] la presenza delle lingue materne ed etniche dei milioni di immigrati ormai cittadini stabili nel vecchio continente. La difesa del multilinguismo e la promozione delle competenze nelle lingue straniere non possono essere ignorate in attesa che si compia “naturalmente” un’assimilazione linguistica che le faccia sparire, oppure lasciando che siano le stesse comunità etniche di immigrati ad organizzarsi autonomamente peril mantenimento linguistico. (Maria Cecilia Luise 2013: 526f)
Es geht also um die
Wechselseitigkeit des sprachlich-interkulturellen Lernens.
2.4 Mehrsprachigkeit und Referenzsprachen
Wie
soll man nun an die Vermittlung der Mehrsprachigkeit herangehen,
sollen etwa alle im Grenzgebiet vorhandene Sprachen unterschiedslos
vermittelt werden? Mit der Devise „alles auf einmal“, wären
die Lerner sicherlich überfordert; aber welche Ordnungskriterien
bieten sich hier an? Das Kriterium der genealogischen
Verwandtschaft innerhalb der einzelnen Sprachen rangiert hier erst an
zweiter Stelle. Wichtiger ist hier ein quantitatives Kriterium,
nämlich die Mehrheit der vorhandenen Sprecher: insofern kommt
den Sprachen diesseits und jenseits der Grenze – also Deutsch und
Französisch – eine herausragende Rolle zu. Sinngemäß gilt dies
auch für andere Grenzräume, wie z. B. Deutsch-Holländisch
oder Deutsch-Polnisch. Diese Referenzsprachen gilt es dann
ihrerseits zu nutzen, um Brücken zu weiteren Sprachen – etwa
vom Deutschen zum Englischen oder vom Französischen zum
Italienischen oder Portugiesischen – zu schlagen. Eine weitere
Brücke bilden die zahlreichen französischen Wörter im Türkischen,
die besonders lernfördernd sein dürften, wie wir in unserer
Lehrveranstaltung zur Mehrsprachigkeit bei türkischen Studenten
erleben konnten. Wichtig ist, dass die Grenzbewohner in ihrer
sprachlichen Identität wahrgenommen werden. Dies gilt besonders
für Migranten. Der Slogan, diese müssten zunächst einmal Deutsch
lernen, um sich zu integrieren, ist zu einfach. Zum einen kann
Integration keine Einbahnstraße sein, wie wir oben gesehen haben;
zum anderen ist die Förderung der deutschen Sprache nur dann
erfolgversprechend, wenn auch die jeweilige Muttersprache der
Migranten einbezogen wird.
In den Grenzräumen gilt es, nationale Bildungsstrukturen dahingehend zu ergänzen, dass eine kooperative Sprachenpolitik angestrebt wird.3 Der Ausdruck Zielsprache müsste in dieser Perspektive systematisch durch Nachbarsprache oder Partnersprache ersetzt werden.
In den Grenzräumen gilt es, nationale Bildungsstrukturen dahingehend zu ergänzen, dass eine kooperative Sprachenpolitik angestrebt wird.3 Der Ausdruck Zielsprache müsste in dieser Perspektive systematisch durch Nachbarsprache oder Partnersprache ersetzt werden.
2.5 Mehrsprachigkeit als strukturierendes Prinzip des
Fremdsprachenunterrichts
Wie soll nun die
Mehrsprachigkeit an der Grenze gezielt genutzt werden? Einmal
muss vom Prinzip einer einseitigen Einsprachigkeit in der Weise
Abstand genommen werden, dass im Sprachunterricht in der Tat auch
mehrere Sprachen zugelassen werden, wobei das Codeswitching
keine unwichtige Rolle spielen dürfte. Den einzelnen Sprachen muss
ein droit de cité
zugewiesen werden. Nun dürfte aber das Sprachenangebot in den
einzelnen Klassen recht unterschiedlich sein; auf einem solchen
Zufallsprinzip kann eine sich vor allem durch Systematik
auszeichnende Sprachdidaktik schwerlich aufbauen. Daher die Forderung
„aller à la rencontre des langues“, wofür sich gerade die
Grenzregion in modellhafter Weise anbietet. Soll der
Spracherwerb wirklich gefördert werden, darf man sich nicht mit
okkasionellem Schüleraustausch zufriedengeben, sondern muss im
Sinne der Kontinuität ein Modell entwickeln, dass den Aufbau einer
dauerhaften Vernetzung mit dem Sprachpartner garantiert. In diesem
Zusammenhang ist das Prinzip der Gegenseitigkeit geboten, das die
Begegnung mit dem Partner und dessen Bedürfnissen –
inklusive der sprachlichen! –
ernst nimmt, ihn aber auch nicht als Sprachinformanten missbraucht.
Damit ist Zweisprachigkeit vorprogrammiert. Besonders reizvoll dürfte
es sein, ein und dieselbe Sprache, z. B. Portugiesisch in einem
grenzübergreifenden Projekt, von französischen, deutschen und
Luxemburger Schülern erlernen zu lassen, um Einsichten in die
unterschiedlichen Herangehensweisen zu gewinnen.
Wie
soll nun aber die Kontaktaufnahme mit den Partnern im Grenzland
organisiert werden? Wir möchten hier keine vollständige Liste
aller Möglichkeiten vorlegen4,
sondern nur auf wesentliche Momente eingehen –
unter Einbeziehung unserer persönlichen Erfahrungen im
Grenzland. Hier kommt vor allem dem Einsatz der Videokamera insofern
eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zu, als sie über die
reine Funktion der Dokumentierung des sprachlichen Geschehens vor Ort
als ein wichtiges Instrument der Selbsterfahrung angesehen
werden kann.5
Entscheidend hierbei ist die Rückbindung des Spracherlebnisses
vor Ort an den Spracherwerb in der Institution Schule: Dies haben wir
einmal « la double
articulation
de l’apprentissage des langues-cultures »6
genannt. Eine pédagogie
de la rencontre darf
nicht antagonistisch zur Schulpädagogik, sondern nur im
funktionalen Verbund mit ihr gesehen werden. Dabei darf natürlich
nicht verschwiegen werden, dass ein ausschließlich schulischer
Zugang zu den Fremdsprachen eher zum Scheitern verurteilt ist, vor
allem deshalb, weil das soziale Umfeld in der Konstellation Schule
erheblich
reduziert ist.
Der Vorteil eines apprentissage sur le terrain liegt natürlich vor allem darin, dass der Lerner bei sprachlichen Schwierigkeiten im Lothringer Grenzland auf das Deutsche und / oder Fränkische zurückgreifen kann, ganz zu schweigen davon, dass er in der Bikulturalität seines französischen Gesprächspartners kulturelle und damit menschliche Nähe erfährt, die für den interkulturellen Austausch von unschätzbarem Wert ist.
Der Vorteil eines apprentissage sur le terrain liegt natürlich vor allem darin, dass der Lerner bei sprachlichen Schwierigkeiten im Lothringer Grenzland auf das Deutsche und / oder Fränkische zurückgreifen kann, ganz zu schweigen davon, dass er in der Bikulturalität seines französischen Gesprächspartners kulturelle und damit menschliche Nähe erfährt, die für den interkulturellen Austausch von unschätzbarem Wert ist.
2.6 Wandel des Sprachverhaltens
Bei
derartigen Momenten des ausgelagerten Sprach- und Kulturerwerbs
konnten wir wiederholt die Erfahrung machen, dass sich der
Habitus der Lerner vor Ort im Vergleich zum schulischen Verhalten
erheblich unterscheidet. Dies ist vor allem darauf zurückzuführen,
dass vor Ort vor allem das kommunikative Globalverhalten in einer
natürlichen native / non
native-Konstellation im Vordergrund
steht – im Unterschied zur hierarchisch schulischen Situation, in
der gezielte Teilfertigkeiten eines Globalverhaltens im
Vordergrund stehen, in der – und das ist das Entscheidende – der
native speaker im
Allgemeinen überhaupt nicht anwesend ist. In der Regel sind die
mündlichen Leistungen – im Vergleich zu schulischem Verhalten –
in Begegnungssituationen vor Ort nicht nur von größerer
Natürlichkeit, sondern auch von höherer Qualität. Empirische
Untersuchungen wären zur Generalisierung derartiger Befunde
sehr wünschenswert.
Der Standortwechsel vom schulischen Lernen zum Lernen vor Ort wirft auch Fragen der Leistungsbeurteilung auf: Wenn es zutrifft, dass die echte mündliche Leistung sich vor allem in der Interaktion zwischen native speakers und non-native speakers richtig entfaltet, so kann die ausschließlich im schulischen Kontext erbrachte mündliche Leistung nur bedingt Gültigkeit haben. Zumindest scheint es geboten, beide Komponenten – die schulisch interne und die externe Leistung – gemeinsam zu bewerten.
2.7 Synthese von schulischem und außerschulischem Lernen
Wie soll nun die schulische mit der außerschulischen Sprachpädagogik sinnvoll miteinander verbunden werden? Erfahrungsgemäß finden Auslandsaufenthalte innerhalb oder außerhalb von Schulpartnerschaften im Allgemeinen nicht regelmäßig statt, sie bilden bislang immer noch eher die Ausnahme als den Regelfall. Und wenn sie stattfinden, fehlt oft eine systematische Rückbindung an die schulische Sprachpädagogik. Gegenüber eher exotischen Momenten des Schüleraustauschs ist es unbedingt erforderlich, dass die vor Ort gemachten sprachkulturellen Erfahrungen der Lerner systematisch in das unterrichtliche Geschehen eingebunden werden. Hier bieten sich mehrere Möglichkeiten an:
Der Standortwechsel vom schulischen Lernen zum Lernen vor Ort wirft auch Fragen der Leistungsbeurteilung auf: Wenn es zutrifft, dass die echte mündliche Leistung sich vor allem in der Interaktion zwischen native speakers und non-native speakers richtig entfaltet, so kann die ausschließlich im schulischen Kontext erbrachte mündliche Leistung nur bedingt Gültigkeit haben. Zumindest scheint es geboten, beide Komponenten – die schulisch interne und die externe Leistung – gemeinsam zu bewerten.
2.7 Synthese von schulischem und außerschulischem Lernen
Wie soll nun die schulische mit der außerschulischen Sprachpädagogik sinnvoll miteinander verbunden werden? Erfahrungsgemäß finden Auslandsaufenthalte innerhalb oder außerhalb von Schulpartnerschaften im Allgemeinen nicht regelmäßig statt, sie bilden bislang immer noch eher die Ausnahme als den Regelfall. Und wenn sie stattfinden, fehlt oft eine systematische Rückbindung an die schulische Sprachpädagogik. Gegenüber eher exotischen Momenten des Schüleraustauschs ist es unbedingt erforderlich, dass die vor Ort gemachten sprachkulturellen Erfahrungen der Lerner systematisch in das unterrichtliche Geschehen eingebunden werden. Hier bieten sich mehrere Möglichkeiten an:
Einmal kann der Lernort – l‘apprentissage sur le terrain – als Bestätigung schulischer Projektarbeit gesehen werden, wobei es sowohl zu einer Bereicherung als auch zu einer Revision des schulischen Stoffes kommen kann. Zum anderen kann der Aufenthalt im Zielland – dem Zufallsprinzip der Begegnungen vor Ort folgend – als Input für eine anschließende Auswertungsphase genutzt werden. Wesentlich ist hierbei, dass das schulische Curriculum konkrete Freiräume für die Integration außerschulischer Begegnungsphasen bereitstellt. Die Begegnungsphasen vor Ort dürfen auf keinen Fall Ausnahmeaktionen darstellen; sie sind vielmehr erwerbskonstituierende Bausteine für den Aufbau und die Weiterentwicklung einer funktionsfähigen Fremdsprachenkompetenz. Die Auslagerung bestimmter Erwerbsphasen in den Realkontext des Ziellandes bietet vor allem den Vorteil, dass eine allzu formelle schulische Sprachdidaktik sich dem natürlichen Verhalten von autochthonen Gesprächspartnern zumindest annähern kann. Begegnungsdidaktik vor Ort impliziert außerdem, dass sprachliches und (inter)kulturelles Lernen nicht beziehungslos etwa in Form von sukzessiven statischen Lernzielen erarbeitet wird, sondern sich situationsbedingt miteinander verzahnen kann.
Noch einen weiteren Aspekt gilt es hier zu berücksichtigen, nämlich das Prinzip der Reziprozität im Bereich der Nachbarsprache. Hier gilt es, zunächst zwischen zwei Fällen zu unterscheiden. Zum ersten Fall: In der interkulturellen Begegnung hat Partner 1 primär die Absicht, sprachlich und oder kulturell etwas zu lernen, während sein Gegenüber primär am Informationsaustausch interessiert ist und vor allem bei Kommunikationsproblemen auf die Sprache aufmerksam wird. Im zweiten Fall – bei der Begegnung zwischen einem Französisch- und einem Deutschlerner in der Schule oder vor Ort – hingegen haben beide die Absicht, voneinander zu lernen. In diesem Zusammenhang ist es nicht so entscheidend, ob der Spracherwerb grundsätzlich ein- oder zweisprachig erfolgen soll – man denke etwa an Dodson (1967 / 1972) –, sondern die Nutzung der sprachübergreifenden Spiegelbildfunktion: In dem Maße wie der Lerner seinen Deutsch lernenden lothringischen Partner beobachtet und sich mit seinen Lernstrategien vertraut macht, kann der saarländische Französischlerner entsprechende Transferleistungen für seinen eigenen Spracherwerb einbringen und dadurch seine Sprachkompetenz bereichern. Im Unterschied zum hierarchischen Lehrer-Schüler-Verhältnis sind die interkulturellen Schülerbegegnungen durch echte Partnerschaft gekennzeichnet. Auch im Fall der Begegnung vor Ort sind die vielfältigen sozialen Konstellationen entscheidend – im Unterschied zur eindimensionalen hierarchischen Lehrer-Schüler-Beziehung. Das positive Ambiente in interkulturellen Begegnungsszenen kann man u.a. daran ablesen, dass viele native speakers die Sprachenlerner vor Ort ständig wegen ihrer Sprachkompetenz loben, was eine ungleich höhere Motivation darstellen dürfte, als ein Übermaß an schulischen Sanktionen. Die sprachliche Vielfalt der einzelnen Gesprächspartner artikuliert ein breites Spektrum an Varietäten, auf die sich die einzelnen Lerner gezielt einstellen müssen – dies im Unterschied zum eindimensionalen Sprachidiolekt der Lehrperson.
2.8 Das Medium Video
Wie
erfolgt nun die Rückführung der Begegnungsszenen vor Ort ins
schulische Geschehen? Hiermit stellt sich sofort die Frage nach der
Dokumentation der einzelnen Szenen. Unter Anleitung eines
professionellen Kameramanns haben wir im Lauf der Jahre zahlreiche
Begegnungsszenen videographiert, nicht etwa um ein großes Archiv für
die Erforschung von Lernprozessen vor Ort anzulegen, sondern um
die Lerner direkt mit ihren eigenen Begegnungen vor Ort zu
konfrontieren. Methodisch haben wir die aus der Pathologie bekannte
Methode der Autoscopie
genutzt, wobei wir vor allem den Unterschied zwischen der
subjektiven Erinnerung der Lerner an ihre einzelnen Begegnungen
vor Ort mit der objektivierenden Funktion des TV-Bildes verglichen.
Hierbei konnten die einzelnen Lerner ihr oft negatives
Erinnerungsbild revidieren, was in vielen Fällen einen erheblichen
Motivationsschub nach sich zog.
Wenn auch die direkte Begegnung der Lerner mit Vertretern der jeweiligen Zielsprachen den Idealfall innerhalb der Mehrsprachigkeitsdidaktik darstellen dürfte, so darf auf keinen Fall auf die Nutzung mehrsprachiger Medien wie Fernsehen und Internet verzichtet werden. Besonders empfehlenswert in diesem Zusammenhang sind Euronews (Bufe & Bufe 2005,113ff) und Arte (Bufe 2002). Die Medien bieten vor allem die Möglichkeit, das in der Interaktion vor Ort erworbene sprachliche Inventar erheblich zu erweitern – und hier denken wir vor allem an die Prosodie. Die medial geschulte und damit differenzierte rezeptive Kompetenz kann dann ihrerseits wiederum Anwendung beim Lernen vor Ort finden, wodurch auch Optimierungseffekte in der Sprachproduktion zu erwarten sind.
Wenn auch die direkte Begegnung der Lerner mit Vertretern der jeweiligen Zielsprachen den Idealfall innerhalb der Mehrsprachigkeitsdidaktik darstellen dürfte, so darf auf keinen Fall auf die Nutzung mehrsprachiger Medien wie Fernsehen und Internet verzichtet werden. Besonders empfehlenswert in diesem Zusammenhang sind Euronews (Bufe & Bufe 2005,113ff) und Arte (Bufe 2002). Die Medien bieten vor allem die Möglichkeit, das in der Interaktion vor Ort erworbene sprachliche Inventar erheblich zu erweitern – und hier denken wir vor allem an die Prosodie. Die medial geschulte und damit differenzierte rezeptive Kompetenz kann dann ihrerseits wiederum Anwendung beim Lernen vor Ort finden, wodurch auch Optimierungseffekte in der Sprachproduktion zu erwarten sind.
3 Grenzdidaktik und Begegnungsdidaktik – eine echte Alternative
Welche
Sprachen sollen im Grenzland gelernt werden? Das ergibt sich in
natürlicher Weise durch das Sprachenangebot der jeweiligen
Grenze: so etwa Dänisch in Schleswig-Holstein oder Polnisch in
Sachsen. Der Begriff Grenze
kann aber nicht nur rein geographisch, sondern muss auch abstrakt im
Sinne einer Grenze in
den Köpfen verstanden werden. Hier geht es im Wesentlichen darum,
Erfahrungen, die in verschiedenen (Hirn)Bereichen gespeichert sind,
miteinander zu verbinden. Dies gilt sowohl für unterschiedliche
Sprachen – einschließlich der Dialekte – als auch für
unterschiedliche kulturelle Erfahrungen. Die Grenzüberschreitung
kann jenes synergetische Kräftepotenzial freisetzen – selbst
da, wo schulische, didaktische und gesellschaftliche Konventionen
und Verbote wirksam sind.
Um mit Viӫtor (1882) zu sprechen: „Der Sprachunterricht muss umkehren“ – wieder einmal –, will er die hier aufgezeigten plurilingualen und multikulturellen Ziele erreichen, denn:
Um mit Viӫtor (1882) zu sprechen: „Der Sprachunterricht muss umkehren“ – wieder einmal –, will er die hier aufgezeigten plurilingualen und multikulturellen Ziele erreichen, denn:
- ein selbstbefangener, rein schulisch abgeschotteter Sprachunterricht ist bei weitem nicht ausreichend;
- die im Grenzland vorhandenen sowie innerhalb der einzelnen Schulklassen vorkommenden Sprachen müssen im Schulraum zugelassen werden;
- Mehrsprachigkeit muss sich im schulischen Raum ereignen können: Sie muss sinnhaft erfahrbar werden und entsprechend eigens vermittelt werden;
- die Präsenz der Muttersprachen muss im Sinne interkultureller Austauschprozesse zugelassen und funktional eingebunden werden;
- der Spracherwerb muss von dem Korsett der permanenten Sanktionierung, von der Manie der Pseudoüberprüfungen befreit werden;
- vor der Gefahr der Verselbständigung oder gar Loslösung der Metasprache von der Zielsprache wäre eigens zu warnen;
- metasprachliche Elemente finden etwa bei der Erklärung von Missverständnissen ihre natürliche pragmatische Bestimmung;
- das Nebeneinander mehrerer Sprachen führt ganz natürlich zu einer Häufung von Transferphänomenen, aber auch von Interferenzen, die primär nicht als Fehler sondern als Indikatoren der Präsenz von Mehrsprachigkeit zu werten wären;
- die absolute Angleichung an eine möglichst hohe near nativeness wäre zugunsten der Offenbarung eigener sprachlicher Identität zumindest zu relativieren, sind doch bestimmte Fehler, wie z. B. die fehlende Rückstellung des Verbums im deutschen Nebensatz, ein Indikator für den frankophonen Deutschsprecher;
- die sprachlichen Fächer dürfen nicht isoliert nebeneinanderstehen, sondern müssen Kontakt miteinander aufnehmen; sie müssen ausdrücklich zur jeweiligen Referenzsprache Deutsch in Beziehung gesetzt werden. Grundsätzlich stellt sich hier die Frage nach einer Neubestimmung der Art und Anzahl der Schulsprachen;
- die Migrantensprachen dürfen nicht unterdrückt, sondern sie müssen – wie erwähnt – eigens sichtbar gemacht werden. So können z. B. deutsche Schüler dadurch beeindruckt werden, dass bestimmte Migrantenkinder wegen einer größeren Nähe ihrer Sprache zu der zu vermittelnden Fremdsprache unter Umständen bessere Leistungen erbringen als sie selbst, was die Integration der ausländischen Mitschüler fördern dürfte. Dies konnten wir z. B. vor Jahren bei albanischen Kindern im Französischunterricht an der Grundschule in St. Ingbert-Rohrbach beobachten.
Welche
Forderungen wären nun an die Lehrperson zu stellen?7
Sicherlich wäre es wünschenswert, dass der Lehrer über die
Zielsprache hinaus weitere Sprachen beherrscht, um den
Anforderungen einer funktionierenden Mehrsprachigkeitsdidaktik
wirklich zu genügen. Die Beherrschung einer einzigen Fremdsprache
ist in diesem Zusammenhang bei weitem nicht hinreichend. In dieser
Hinsicht wäre es sicherlich nicht abwegig, wenn das Doppelstudium in
der Lehrerausbildung sich stärker auf zwei Sprachen – im
Unterschied zu einer Sprache plus einem Sachfach –
konzentrieren würde. Es ist recht bedauerlich, dass viele Vertreter
der Mehrsprachigkeitsdidaktik kaum mehrere Sprachen beherrschen.
Eine mögliche Problemlösung kann hier in einer Kooperation der
Lehrer unterschiedlicher Sprachen im Sinne des teamteaching
gesehen werden. Der Deutsch als Zweitsprache Lehrende sollte auf
jeden Fall (Grund)Kenntnisse in einer oder zwei Migrantensprachen
haben, sonst läuft er Gefahr, dass die Vermittlung des
Deutschen ungleich schwieriger wird ̶
vor
allem aber viel länger dauern wird.
Bei der Anwesenheit verschiedener Sprachträger bietet sich die Möglichkeit, dass die einzelnen Vertreter als Informanten für ihre jeweilige Sprache bzw. Kultur fungieren können. Damit findet eine Verlagerung des lehrerzentrierten Sprachunterrichts auf die Lerner statt. Zum einen werden dadurch die einzelnen Sprach- bzw. Kulturvertreter in ihrem Selbstbewusstsein gestärkt, zum anderen wird die nunmehr horizontal ausgerichtete Kommunikation in der Lerngruppe erheblich gefördert. Besonders erfolgreich war diese Vorgehensweise im Mehrsprachigkeitsunterricht an der Universität des Saarlandes, da hier außer den Französischstudenten auch Spanisch-, Italienisch- und Portugiesischstudenten vertreten waren, was die innerromanische Kommunikation erheblich fördern kann.8
Welches Profil soll nun dem mehrsprachigen Lerner zukommen? Hier ist ein doppelter Vergleich angezeigt: zum einen mit dem Bilingualen, zum andern mit dem Migranten. Im Unterschied zum Bilingualen, der in der Regel im natürlichen – sprich familiären – Kontext seine Zweisprachigkeit erwirbt, hat eine schulisch erworbene Kompetenz selbst dann, wenn sie systematisch begegnungsdidaktische Momente integriert, ihre Grenzen. Dennoch kann der Bilinguale als Muster für den „normalen Lerner“ gelten. Denn Kail stellt zurecht fest:
Bei der Anwesenheit verschiedener Sprachträger bietet sich die Möglichkeit, dass die einzelnen Vertreter als Informanten für ihre jeweilige Sprache bzw. Kultur fungieren können. Damit findet eine Verlagerung des lehrerzentrierten Sprachunterrichts auf die Lerner statt. Zum einen werden dadurch die einzelnen Sprach- bzw. Kulturvertreter in ihrem Selbstbewusstsein gestärkt, zum anderen wird die nunmehr horizontal ausgerichtete Kommunikation in der Lerngruppe erheblich gefördert. Besonders erfolgreich war diese Vorgehensweise im Mehrsprachigkeitsunterricht an der Universität des Saarlandes, da hier außer den Französischstudenten auch Spanisch-, Italienisch- und Portugiesischstudenten vertreten waren, was die innerromanische Kommunikation erheblich fördern kann.8
Welches Profil soll nun dem mehrsprachigen Lerner zukommen? Hier ist ein doppelter Vergleich angezeigt: zum einen mit dem Bilingualen, zum andern mit dem Migranten. Im Unterschied zum Bilingualen, der in der Regel im natürlichen – sprich familiären – Kontext seine Zweisprachigkeit erwirbt, hat eine schulisch erworbene Kompetenz selbst dann, wenn sie systematisch begegnungsdidaktische Momente integriert, ihre Grenzen. Dennoch kann der Bilinguale als Muster für den „normalen Lerner“ gelten. Denn Kail stellt zurecht fest:
Le statut de bilingue ne provient pas du niveau de la performance accomplie et tout particulièrement l’absence d’accent. Cette conception est un mythe qui a la vie longue. C’est l’usage des langues qui définit le bilingue et cette définition large est maintenant standard. (Kail 2015 : 3f)
Noch eindeutiger ist
Grosjean (2015, 129):
L’enseignement traditionnel des langues, qui reste l’approche dominante dans les programmes scolaires, ne transforme pas de petits monolingues en bilingues : combien d’enfants ayant suivi plusieurs années de cours d’une seconde langue arrivent à s’en servir couramment dans la vie de tous les jours ? (Grosjean 2015 : 129)
Bei den Migranten
beeindrucken der ständige Kontakt mit der Sprache des Exillandes und
ihre Bereitschaft, sich über die Sprache zu integrieren. Allerdings
hat der normale Sprachenlerner auch einen Vorteil, der vor allem in
der normgerechten Sprache gesehen werden kann. Im Zusammenhang mit
Migranten in Italien heißt es z. B. bei Valeria Villa:
Quant à la langue italienne et à ses contextes, les déclarations des migrants dans de nombreux cas mettent en exergue l’apprentissage en milieu naturel et un recours souvent faible aux formations (…). (Valeria Villa 2015: 123)
Unser Ansatz der
doppelten Artikulation bleibt nicht beim natürlichen Spracherwerb
stehen. Durch die Zusammenführung von formalem Lernen und
Begegnungslernen wird er gerade dadurch dem schulischen
Bildungsauftrag gerecht.
4 Schlussbemerkung
Fassen
wir zusammen. Der eingangs im Hugo-Zitat artikulierte Standortwechsel
und die damit verbundene Motivation, mehrere Sprachen erlernen zu
wollen, kann sich in Grenzräumen ohne großen physischen und
finanziellen Aufwand bestens entfalten. Ein Standortwechsel braucht
in einer multikulturellen Schulklasse erst gar nicht vorgenommen
zu werden, da die Mehrsprachigkeit ja schon ohnehin durch die Schüler
selbst gegeben ist. Wie bereits gefordert, ist es aber hier
angezeigt, die compartimentage
der Schulsprachen aufzubrechen. Die verschiedenen Sprachen müssen
miteinander in einen Dialog treten, wobei dem Deutschen als Mutter-
und Zweitsprache in unserem Land eine integrative Funktion zukommen
dürfte. Art und Umfang des Sprachenangebots wären je nach den
gesellschaftlichen Bedürfnissen zu erweitern bzw. zu variieren.
Weiterhin dürfte deutlich geworden sein, dass ein ausschließlich institutionalisierter Fremdsprachenunterricht ohne direkten Bezug zum Realkontext des Ziellandes für die orale Sprachkompetenz bei weitem nicht hinreichend ist. Vor allem fehlt ihm die multilinguale Ausrichtung.
En guise de conclusion greifen wir auf Bufe (1991: 157) zurück. Was in dem Artikel mit dem Titel Plädoyer für einen grenzübergreifenden Fremdsprachenunterricht: ein Beitrag zu einer interkulturellen Begegnungsdidaktik festgestellt wurde, dürfte aufgrund der gewachsenen Internationalisierung heute im besonderen Maße gelten:
Weiterhin dürfte deutlich geworden sein, dass ein ausschließlich institutionalisierter Fremdsprachenunterricht ohne direkten Bezug zum Realkontext des Ziellandes für die orale Sprachkompetenz bei weitem nicht hinreichend ist. Vor allem fehlt ihm die multilinguale Ausrichtung.
En guise de conclusion greifen wir auf Bufe (1991: 157) zurück. Was in dem Artikel mit dem Titel Plädoyer für einen grenzübergreifenden Fremdsprachenunterricht: ein Beitrag zu einer interkulturellen Begegnungsdidaktik festgestellt wurde, dürfte aufgrund der gewachsenen Internationalisierung heute im besonderen Maße gelten:
- Die größere Motivation der Lerner, die im Direktkontakt mit native speakers gegeben ist, im Vergleich zum einseitig propädeutischen, auf eine etwaige spätere Verwendung der Fremdsprache verweisenden Ansatz;
- Die größere Offenheit der außerschulischen Sozialkontakte im Vergleich zur statischen Rollenverteilung in Schule und Hochschule;
- Die Ergänzung der hierarchischen Lehrer-Schüler-Relation durch eine horizontale Interaktion mit außerschulischen Partnern;
- Höhere Lernerautonomie durch Selbtbeteiligung bei der Realisierung von interkulturellen Interviews und Gesprächen;
- Stärkere Identifizierungsmöglichkeiten mit der selbst erstellten Materialgrundlage;
- Möglichkeit einer Korrektur der Schulsprache durch Intensivierung der Realkontakte und
- die Integration von interkulturellem Spracherwerb und entdeckender Landeskunde.
Hier noch eine kritische
Anmerkung: Ist es überhaupt legitim, den Sprachenlerner mit
einem zweisprachigen Individuum oder einem mehrsprachigen Migranten
zu vergleichen? Der normale Lerner ist doch insofern in einer ganz
anderen Situation, als er in der Regel einsprachig ist – sieht man
einmal vom Verhältnis Dialekt vs. Hochsprache ab? Wir glauben aber
gezeigt zu haben, dass die künstliche – sprich institutionelle –
Bereitstellung der Zielsprache durch die Schule allein eben nicht
ausreichend dafür ist, eine funktionierende und gesellschaftlich
akzeptierte orale Fremdsprachenkompetenz hervorzubringen. Die
Beobachtung des Umgangs mit zwei oder mehreren Sprachen bei
Bilingualen und Migranten stellt insofern eine Herausforderung
an die schulische Sprachvermittlung dar, als auch der Dialog zwischen
den Sprachen bei einer Aufwertung der Muttersprache gefördert wird.
Nicht das Endziel in Form einer letztendlich kaum erreichbaren native
competence ist das Entscheidende, sondern der
als Dialog angelegte Weg innerhalb der einzelnen Sprachen. Hier ist
vor allem ein normatives Umdenken gefordert: weg von lupenreinen
Normen, hin zur mutigen Annahme hybrider Sprachformen, die zum einen
als Zeichen des Dialogs innerhalb der Sprachen und zum anderen als
Zuträger für die Mehrung der
Sprachkompetenz gewertet werden können. Folgende Bemerkung von
Roseline de Villanova gilt nicht nur für Migranten, sondern auch bis
zu einem gewissen Grad für den normalen Sprachenlerner:
Le bilinguisme serait en quelque sorte la symbolisation d’un trajet familial où le « sui-référentiel» n’est pas déterminé dans les limites d’une seule langue mais dans un espace de circulation linguistique qui sera celui de l’assertion du sujet.(de Villanova 1987: 140)
Wir möchten unsere
Ausführungen mit einer Bemerkung von Maria Cecilia Luise schließen,
die die Mehrsprachigkeit in einen breiteren Kontext stellt:
Ecco allora che chi possiede competenze plurilingui e interculturali non è chi sa parlare molte lingue, non è chi raggiunge il livello C2 in una o più lingue straniere, ma chi sa usare, nei contesti opportuni e per le proprie finalità di autorealizzazione, lingue diverse conosciute a livelli di competenza diversi, e sa servirsi delle proprie conoscenze linguistiche, culturali e interculturali e delle strategie linguistico-comunicative che possiede per attribuire significato a testi e situazioni nuovi. (Luise 2013: 532)
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1 Ein weiteres Zeugnis für die mehrsprachige Situation in der Schweiz
ist die sehr umsichtige Darstellung von Arquint (2014).
2 Zur
Spracherwerbsforschung bei Migranten vgl. z. B. Flores &
Rinke (2016).
3 Vgl.
in diesem Zusammenhang den schon 1993 vom FMF herausgegebenen Band
Fremdsprachen für die Zukunft – Nachbarsprachen und
Mehrsprachigkeit oder für die heutige Situation das Paar
Frankreichstrategie / Deutschlandstrategie im Saarland
und in Lothringen.
4 Vgl.
hierzu unseren Beitrag Didactique des langues en région frontalière.
Frontière de la didactique? (Bufe 2001)
5 Vgl.
in diesem Zusammenhang auch unsere Beiträge (Bufe 1986, 1988,
1991a).
6 Vgl.
Kap. 4. Alternance des phases intra muros et extra muros en région
frontalière in
Bufe (2001: 308)
7 Zu
grundsätzlichen Erwägungen über die Lehrerausbildung aus
saarländischer Sicht im
Bereich der Mehrsprachigkeitsdidaktik vgl.
Polzin-Haumann & Reissner (2013).
8 Vgl.
zum letzten Punkt vor allem das Buch Comprendre
les langues romanes von
Paul
Teyssier
(2004) sowie Hagège (2014: 139).