Wissenschaftlicher Sammelband, herausgegeben von Thomas Tinnefeld - unter Mitarbeit von Matthias Ballod, Jan Engberg, Katja Lochtman, Günter Schmale, Veronica Smith. Saarbrücken: htw saar 2016. ISBN 978-3-942949-11-8

Gerhart Hauptmann und Romain Rolland im „Dialog“ – Dimensionen des Textverstehens

Heinz-Helmut Lüger (Koblenz-Landau)


«Il serait temps de renoncer à des idées qui ne
résistent pas à un examen sérieux.» (Bréal 1891: 619)


Abstract (English)
Understanding documents that stem from a foreign culture, undoubtedly, does not only require knowledge about linguistic rules but also specific knowledge about the cultural embedding of such texts. In other words, text comprehension is not possible without a minimum of contextual information. On the one hand, this concerns objects and facts which are explicitly mentioned; on the other hand, it may include background circum­stances, implicit attitudes, allusions, and, occasionally, also historical aspects. The focus on competences, introduced by the Common European Framework of Reference for Languages, cannot fully comply with these conditions.
Keywords: Cultural studies, foreign language learning, focus on competences,
German-French relations

Abstract (Deutsch)
Die Rezeption landeskundlicher Dokumente erfordert bekanntlich nicht nur sprachliche, sondern ebenso eine Reihe kulturspezifischer Kenntnisse. Mit anderen Worten: Textverstehen kommt ohne ein minimales Kontextwissen nicht aus. Diese Kontexte betreffen zum einen Gegenstände und Sachverhalte, auf die explizit Bezug genommen wird, zum andern betreffen sie mitgemeinte Hintergründe, Einstellungen, Anspie­lungen, oft auch historische Aspekte. Die mit dem Gemeinsamen europäischen Refe­renzrahmen eingeführte Kompetenzorientierung kann dem nur eingeschränkt gerecht werden.
Stichwörter: Landeskunde, Fremdsprachenlernen, Kompetenzorientierung,
deutsch-französische Beziehungen



1 Ausgangspunkt: Deutsch-französische Beziehungen

Die deutsch-französischen Beziehungen sind ohne Frage ein Standardthema sowohl in der Frankreichforschung wie auch in der Frankreichkunde. Die in­haltliche Relevanz erscheint offenkundig, lassen sich doch auf diesem Wege zahlreiche Bezüge zu den beiden Gesellschaften, zu den soziokulturellen Verhältnissen, zu den politischen Prioritäten, den Konflikten und Kooperationen und zu unterschiedlichen Etappen von Abgrenzung und Annäherung, von Feindschaft und Freundschaft herstellen. Einer zusätzlichen Begründung als Untersuchungs- oder als Vermittlungsgegenstand bedarf es daher an dieser Stelle nicht (Große 2008: 300ff).
Nicht mehr ganz so selbstverständlich erscheint dies jedoch, wenn man von den Kompetenzstandards des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens (GeR) ausgeht. So liest man etwa zum „Leseverstehen allgemein“ bezüglich der Niveaustufe C1:
    Kann lange, komplexe Texte im Detail verstehen, auch wenn diese nicht dem eigenen Spezial­gebiet angehören, sofern schwierige Passagen mehrmals gelesen werden können. (GeR 2001: 74)
Landeskundliches Lernen wird im GeR nicht eigens zum Thema gemacht; zur Vermittlung kulturellen Wissens finden sich ebenso wenig konkrete Aussagen wie zur Einbeziehung historischer Informationen. Insofern verwundert nicht, wenn es auch für den Bereich des Interkulturellen bei ähnlich allgemein formu­lierten Zielvorstellungen bleibt. Aufschlußreich ist die folgende Auflistung:
Interkulturelle Fertigkeiten umfassen:
  • die Fähigkeit, die Ausgangskultur und die fremde Kultur miteinander in Beziehung zu setzen;
  • kulturelle Sensibilität und die Fähigkeit, eine Reihe verschiedener Strate­gien für den Kontakt mit Angehörigen anderer Kulturen zu identifizieren und zu verwenden;
  • die Fähigkeit, als kultureller Mittler zwischen der eigenen und der fremden Kultur zu agieren und wirksam mit interkulturellen Missverständnissen und Konfliktsituationen umzugehen;
  • die Fähigkeit, stereotype Beziehungen zu überwinden. (GeR 2001: 106)
Noch deutlicher zeigt sich die Abkehr von inhaltlicher Konkretisierung, wenn man z. B. hochschulinterne Hinweise und Sprachregelungen zur Umsetzung der Kompetenzstandards hinzuzieht:
Es geht nicht mehr um die Beschreibung von Lehrinhalten („Input“), sondern vielmehr um das, was Studierende nach Abschluss eines Moduls oder eines Studiengangs in der Lage sind zu tun („Output“). (Baumann / Benzing 2013: 3)
Lernergebnisse sind keine Lerninhalte oder Themen. (Baumann / Benzing 2013: 8; Hervorhebung im Original)

Bei der Beschreibung von Lernergebnissen / Kompetenzen empfiehlt sich die Verwendung von Verben, die direkt beobachtbare Handlungen beschreiben. Zu vermeiden sind hingegen Verben, die eher den Lernprozess als sein Ergebnis in den Blick nehmen (z. B.: wissen, verstehen, begreifen, haben gelernt, kennen, würdigen, vertraut sein). Werden dennoch solche Verben verwendet, empfiehlt es sich zu beschreiben, wie diese Verben (Kompetenzen) erfasst werden sollen (z. B.: das Wissen über xy wird anhand von … nachgewiesen). (Baumann & Benzing 2013: 2013: 10)
Es ist also die mit dem GeR neu etablierte Output-Orientierung, die Konzentra­tion auf direkt Beobachtbares und Nachweisbares, wodurch „Lern­inhalte oder Themen“ in den Hintergrund geraten. Und es dürfte schwerfallen, der folgenden Beobachtung Gessers zu widersprechen:
Im Gegensatz zum Lehrplan äußert sich der GER nicht zu konkreten Inhalten, anhand derer die Kompetenzen erreicht werden können. (Gesser 2006: 7)

Diese inhaltliche Unverbindlichkeit leistet ohne Frage Bestrebungen Vorschub, die einem sprachpraktischen Verständnis von Lesekompetenz den Vorzug geben und die ausdrückliche Einbeziehung zielkultureller Zusammenhänge eher vermeiden. An Kritik einer solchen Position hat es in den letzten Jahren nicht gefehlt; wichtige Stichworte waren „Entkulturalisierung“, „Ausbildung statt Bildung“, „Rückfall in eine fremdsprachendidaktische Steinzeit“ oder, da Sprach­standards als Bildungsstandards ausgegeben werden, schlicht „Etiketten­schwindel“1. Es scheint in der Tat so zu sein, daß mit dem Postulat von Opera­tionalisierung und Evaluierung des Fremdsprachenlernens Inhalt­liches leicht auf der Strecke bleibt – ein Einwand, der bereits in den 1980er Jah­ren mehrfach Gegenstand fremdsprachendidaktischer Diskussionen war. Die Notwendigkeit der Einbeziehung landeskundlicher Hintergründe für das Text­verstehen konnte seitdem zwar als unumstößlich und selbstverständlich gelten, mit der Kompe­tenzdidaktik und ihrer „Pädometrie“, so Wernsing (2015: 24), rückt die wirkliche Welt jedoch wieder in den Hintergrund.
In den anschließenden Abschnitten geht es vor allem darum, anhand eines kon­kreten Beispiels noch einmal zu veranschaulichen, worin die inhaltliche Kom­plexität – die prinzipielle Mehrdimensionalität – von Textverstehen beste­hen kann. Diese (keineswegs neue) Einsicht dürfte schließlich auch dazu beitragen, Einseitigkeiten und Begrenzungen eines Verstehenskonzepts aufzuzeigen, das sich verstärkt an leicht evaluierbaren sprachlichen Fertigkeiten orientiert und auf eine Anbindung an soziale, politische und historische Zusammenhänge ver­zichtet. Als Beispiel dient eine Auseinandersetzung, wie sie Gerhart Haupt­mann und Ro­main Rolland vor ungefähr einhundert Jahren zu Beginn des Ersten Weltkriegs geführt haben2. Ausgangspunkt ist eine längere Erklärung Gerhart Hauptmanns unter dem Titel „Gegen Unwahrheit!“ in der Vossischen Zeitung vom 26.8.1914, auszugsweise im Anhang als Text (1) wiedergegeben.
In dem genannten Beitrag wendet sich Gerhart Hauptmann vehement vor allem gegen ausländische Kritiker, die das Vorgehen deutscher Truppen zu Beginn des Krieges scharf verurteilen. Hintergrund ist folgender Sachverhalt: Belgien, das wie Luxemburg 1914 zu den neutralen Staaten gehört, wird von der Regierung des Deutschen Reichs in einem Ultimatum aufgefordert, den Durch­zug deutscher Truppen zu erlauben. Die Ablehnung dieser Forderung hält das deutsche Militär jedoch nicht vom völkerrechtswidrigen Einmarsch ab, und be­reits in den ersten Kriegswochen erlebt Belgien zahlreiche Übergriffe. Beson­dere Empörung ruft das Massaker von Dinant hervor, bei dem nahezu 700 Zivil­personen getötet werden, darunter zahlreiche Geiselerschießungen. Nicht minder empört reagiert man, als nur wenige Tage später deutsche Trup­pen die Stadt Löwen zerstören und dabei auch die berühmte Universitätsbiblio­thek der Universität in Flammen aufgehen lassen. Die Deutschen werden inter­national fortan als die neuen Hunnen, als Barbaren, die vor keinem Kriegsverbrechen zurückschrecken, an den Pranger gestellt. Als politisch fatal erweisen sich die Ereignisse, einschließlich der internationalen Kritik, auch insofern, als die deutsche Seite auf diese Weise gerade bei den neutralen Staaten jeglichen Rückhalt verspielt. Intellektuelle wie Gerhart Hauptmann, bekannter Autor und 1912 Literaturnobelpreis-Träger, bemühen sich in dieser Situation um Scha­densbegrenzung, weisen die Vorwürfe energisch zurück, bestreiten sogar die Vorfälle3 und versuchen, den deutschen Friedenswillen und den Status als „altes Kulturvolk“ hervorzuheben:
(1a) [1] Wir sind ein eminent friedliebendes Volk. Der oberflächliche Feuilletonist Bergson in Paris mag uns immerhin Barbaren nennen, der große Dichter und verblendete Gallomanne Mäterlinck uns mit ähnlichen hübschen Titeln bele­gen, nachdem er uns früher „das Gewissen Europas“ genannt hat. Die Welt weiß, daß wir ein altes Kulturvolk sind. Die Idee des Weltbürgertums hat nir­gends tiefere Wurzeln geschlagen als bei uns. [...]
Gleichzeitig geht es Hauptmann darum, bestimmte Autoren, die sich kritisch zu den Ausschreitungen in Belgien äußern, zu diffamieren und lächerlich zu machen. Dies trifft nicht zuletzt, wie in (1) dokumentiert, den belgischen Dichter und Literaturnobelpreis-Träger von 1911, Maurice Maeterlink, und den fran­zösischen Philosophen und Schriftsteller Henri Bergson. Gerade letzterer zieht viele negative Kommentare auf sich und wird als „oberflächlicher Feuilletonist“ und als „Salon-Philosophaster“ (s. (1) [2]) etikettiert. Anlaß ist eine Rede vom 8. August 1914, in der es u.a. heißt: « La lutte engagée contre l'Allemagne est la lutte même de la civilisation contre la barbarie. » (Bergson 1972: 1102). Es dürfte wohl gerade der Vorwurf des Barbarentums sein, der Hauptmann jeden Maßstab vergessen und zu diesen persönlichen Verhöh­nungen greifen läßt – der so apostrophierte „Salon-Philosophaster“ hat seit 1900 eine Professur für Philosophie an der Pariser Elite-Hochschule École nor­male supérieure und am international renommierten Collège de France inne, 1901 wird er ins Institut de France (Académie des sciences morales et poli­tiques), 1914 in die Académie française aufgenommen.
Insgesamt ergibt sich: Die deutsch-französischen Beziehungen erleben einen neuen Tiefpunkt, dies sowohl auf der staatlich-politischen Ebene als auch auf der Ebene des persönlichen Austausches zwischen Künstlern, Literaten und Wissenschaftlern. Nicht alle Informationen sind dem Text selbst zu entnehmen, insbesondere die Einschätzung der gegebenen Bewertungen setzt zusätzliche Kenntnisse, und zwar landes- und personenspezifische, voraus. Auf weitere, für die Bedeutungszuschreibung relevante Aspekte wird, wiederum anhand der Stellungnahme Gerhart Hauptmanns, im folgenden Abschnitt verwiesen.

2 Verstehenskontexte

Das deutsch-französische Verhältnis wird bei Hauptmann relativ ausführlich, wenn auch perspektivisch verkürzt, angesprochen:
(1b) [2] [...] Ich spreche es aus: Wir haben und hatten keinen Haß gegen Frankreich: Wir haben einen Kultus mit der bildenden Kunst, Skulptur und Malerei und mit der Literatur dieses Landes getrieben. Die Weltschätzung Rodins wurde von Deutschland aus in die Wege geleitet, wir verehren Anatole France. Maupassant, Flaubert, Balzac wirken bei uns wie deutsche Schriftsteller. [...]
[3] Es war schmerzlich zu bedauern, daß Deutschland und Frankreich politisch nicht Freunde sein konnten. Sie hätten es sein müssen, weil sie Verwalter des kontinentalen Geistesgutes, weil sie zwei große durchkulti­vierte europäische Kernvölker sind. Das Schicksal wollte es anders. Acht­zehnhundertsiebzig erkämpften sich die deutschen Stämme die deutsche Einheit und das Deutsche Reich. Unter diesen Errungenschaften ward un­serm Volk eine mehr als vierzigjährige friedliche Epoche beschieden. Eine Zeit des Keimens, des Wachsens, des Erstarkens, des Blühens, des Frucht­tragens ohnegleichen. [...]
Hauptmann macht einen Unterschied zwischen der allgemeinen Wertschätzung französischer Kunst und französischen Autoren einerseits und einer schicksals­bedingten politischen Gegensätzlichkeit andererseits. Diese Darstellung ist er­gänzungsbedürftig:
                        

Abb. 1: Deutsch-französische Vorbehalte (Kladderadatsch, 31.3.1867)
Spätestens seit Königgrätz bzw. Sadowa, der österreichischen Niederlage ge­gen Preußen im Jahre 1866, der anschließenden Auflösung des Deutschen Bundes und der Neugründung des Norddeutschen Bundes unter preußischer Führung kommt es zu einer Veränderung des deutsch-französischen Verhält­nisses. Die neue Machtposition Preußens erregt das Mißtrauen Frankreichs, und Napoleon III. fühlt sich sogar zur Forderung territorialer Kompensationen veranlaßt. Die bis dahin überwiegend germanophile Haltung beginnt zu brö­ckeln, die Wirkung des von Mme de Staël in ihrem Buch De l’Allemagne (ge­schrieben 1810) entworfenen Deutschland-Bildes beginnt zu verblassen. Bezeich­nend erscheint hier u.a. die Reaktion eines Edgar Quinet, ein von deut­scher Kultur und Philosophie zunächst durchaus überzeugter Historiker und Schriftsteller, der bereits 1842 in einem Zeitschriftenbeitrag, überschrieben mit « La Teutomanie », eine Abkehr von allen nationalistischen Tendenzen und eine Rückbesinnung auf vergangene Werte und Vorstellungen fordert:
Que l’Allemagne revienne donc au plus tôt à son génie naturel, qu’elle soit telle que nous l’avons connue, et les sympathies de l’étranger ne lui manqueront pas. (Quinet 1842: 938)
Und auf deutscher Seite sorgen bestimmte Reaktionen des französischen Kai­sertums ebenfalls für eine Abkühlung der Beziehungen. Als Beispiel der gegen­seitigen Feindbild-Konstruktion diene hier die in Abb. 1 wiedergegebene Kari­katur: Bismarck fungiert als der Beschützer der Herde der deutschen Staaten, und zwar gegenüber Napoleon III., der – als Löwe dargestellt – von Baden und Bayern verbellt wird4; im Hintergrund erscheint die Germania mit dem Appell an Bismarck: „Schütze meine Herde!“ Die bereits 1867 zum Ausdruck kommenden Spannungen zwischen Preußen und Frankreich führen dann zum Krieg von 1870/1871 und damit zu einem radikalen Wandel der deutsch-französischen Beziehungen. Der Erbfeindschafts-Mythos kann sich nun (vor allem auf deutscher Seite) ungehindert entfalten; doch auch in Frankreich dominieren starke nationalistische, deutschfeindliche Tendenzen (Jeismann 1992: 262ff).
                            
Abb. 2: Deutsch-französischer Dauerkonflikt
Ein großes Konfliktfeld stellt die Annexion des Elsaß und eines Teils von Loth­ringen dar, ebenso die anschließend betriebene Germanisierung. Bei Haupt­mann ist in (1) [3] lediglich die Rede von den „deutschen Stämmen“, die sich die deutsche Einheit und das Deutsche Reich erkämpft hätten; dies habe letztlich eine „vierzigjährige friedliche Epoche“ begründet, eine Zeit „des Blü­hens, des Fruchttragens ohnegleichen“. Angesichts solcher Formulierungen, die im übri­gen sehr an die Reden des deutschen Kaisers und des Reichskanz­lers in den ersten Augusttagen 1914 erinnern (Lüger 2015), verwundert nicht, daß das Problem des „Reichlandes“ Elsaß-Lothringen nicht in den Blick genom­men wird, schon gar nicht die damit verbundenen unterschiedlichen Interessen und Perspektiven (Abb. 2): Aus der Sicht Preußens handelt es sich bei der Anne­xion um eine Maßnahme der „Selbsterhaltung“, und man müsse, so die Bild­unterschrift, „der Bestie die Krallen abschneiden, damit man künftig Ruhe vor ihr“ habe (die Karikatur zeigt Bismarck, u.a. sekundiert vom preußischen König Wilhelm, beim Abtrennen dieser Krallen, nämlich vom Elsaß und von Loth­ringen). Dieser Position entgegengesetzt gibt die französische Karikatur in Abb. 2 eine Haltung wieder, wonach es der Patriotismus gebiete, den Gedan­ken an die Rückgewinnung Elsaß-Lothringens, eines integralen Bestand­teils Frankreichs (vgl. die Plazierung der Landesbezeichnung France) präsent zu halten und an die junge Generation weiterzugeben.
Die Karikaturen sind gerade wegen ihres pointierenden Charakters symptoma­tisch für die von beiden Seiten praktizierte Propaganda und die letztlich unver­söhnlichen Positionen. Sie veranschaulichen ebenso, in welcher Weise die Aussagen und Anspielungen Hauptmanns in (1) [2-3] historisch und politisch zu erweitern bzw. zu korrigieren wären. Bezüglich der dabei bemühten landes­kundlichen Informationen ist Vollständigkeit prinzipiell nicht sinnvoll anzu­streben; wie viel an solchen Wissensbeständen herangezogen wird, ist immer auch eine Frage der Verstehenstiefe und der Interessen des Rezipienten.
Ein weiterer Aspekt sei in diesem Zusammenhang noch genannt: Viele der gemachten Äußerungen stehen in einer mehr oder weniger direkten Beziehung zu Vorgängertexten. Dies gilt zum Teil auch für die Erklärung Gerhart Haupt­manns, und zwar besonders dann, wenn es um politisch wesentliche Punkte geht: z. B. bei der Betonung der Friedensliebe, der Verteidigung kultureller Werte und der pauschalen Zurückweisung von Kritik – hier sind intertextuelle Bezüge zu regierungsoffiziellen Verlautbarungen unübersehbar. So tauchen ei­nige Formulierungen des folgenden Auszugs wie vorgeprägte Versatzstücke immer wieder auf:
(1c) [7] [...] Das deutsche Volk, die deutschen Fürsten, an der Spitze Kaiser Wil­helm der Zweite, haben keinen anderen Gedanken gehabt, als durch Heer und Flotte den Bienenstock des Reiches, das fleißige, reiche Wirken des Friedens, zu sichern. [...]
[8] Der Krieg, den wir führen und der uns aufgezwungen ist, ist ein Verteidi­gungskrieg. Wer das bestreiten wollte, der müßte sich Gewalt antun. [...]
[9] Wer aber hat diesen Krieg angezettelt? Wer hat sogar den Mongolen gepfiffen, diesen Japanern, daß sie Europa hintertückisch und feige in die Ferse beißen? Jedenfalls doch unsere Feinde, die, umgeben von Kosaken­schwärmen, für die europäische Kultur zu kämpfen vorgeben. [...]
Auf einzelne Nachweise wird hier verzichtet, zumal die Reden zum Kriegs­ausbruch bereits diverse Übereinstimmungen liefern. Man kann solche Aussa­gen nun auch auf Stellungnahmen beziehen, die zu ihnen in einem diametralen Gegensatz stehen. Als Beispiel ließen sich Vorschläge zur Lösung des Elsaß-Problems nennen, die allerdings meist ignoriert werden, um den einmal einge­schlagenen Weg, um die These von der politischen Zwangsläufigkeit (bis hin zum Kriegsausbruch) nicht revidieren zu müssen. Gleichsam die Probe aufs Exempel liefert die Idee Michel Bréals zur Neutralitäts-Erklärung von Elsaß-Lothringen:
Je crois qu’il faut demander cette neutralisation comme le seul moyen d’obtenir pour l’Europe une paix solide et durable. Neutralisation sous la protection des grandes puissances, qui n’ont pas plus d’intérêt que nous à vivre dans cet état perpétuel de défiance et d’armement. […]

Je la demande aussi dans l’intérêt de l’Alsace, qu’on a un peu trop oubliée jusqu’à présent, et passée sous silence. Elle deviendra le pays d’élection pour tous ceux qui aiment la liberté et le progrès pacifique. L’Université de Strasbourg deviendra la continuation de l’ancienne université où Goethe a passé quelques-uns des meilleurs jours de sa vie. (Bréal 1913: 36)
Es versteht sich, daß von diesem Vorschlag (wie auch von anderen ähnlich or­ientierten Ini­tiativen zur Friedenssicherung) in den Ausführungen Hauptmanns nicht die geringste Spur zu finden ist. Solche Überlegungen hätten, wie schon angedeutet, die eindimensionale und schwarz-weiß-malende Argumenta­tion so­wie die einseitigen Schuldzuweisungen noch fragwürdiger erscheinen lassen, als sie es ohnehin schon sind. Insofern sind die absichtsvollen Auslas­sungen durchaus als konstitutiv für den vorliegenden Text zu betrachten.
                           
Abb. 3: Kontexte des Leseverstehens
Eines sollte deutlich geworden sein: Die Einschätzung, die kritische Einordnung des vorliegenden Beitrags von Gerhart Hauptmann und der mitherangezogenen französischen Dokumente setzt ohne Frage einerseits voraus, „komplexe Texte im Detail verstehen“ oder „feine stilistische Unterschiede und implizite Bedeu­tungen erfassen“ zu können, wie vom GeR (2001: 74) mit den Kompetenzstan­dards vorgesehen. Darüber hinaus ist jedoch ein bestimmtes Kontextwissen erforderlich, wie es sich kaum mit diesen allgemeinen Hinweisen zum Lesever­stehen angeben läßt. Benötigt werden vielmehr – und zwar sowohl für in der Zielsprache geschriebene Texte also auch für muttersprachliche Dokumente – Informationen und Kenntnisse, die die Rezeption von Texten oder bildlichen Darstellungen in ihrem kommunikativen Zusammenhang ermöglichen (Abb. 1). Dies betrifft zunächst das Zuordnenkönnen bestimmter, im Text (oder im Bild) vorhandener Angaben zu den gemeinten Ereignissen, Sachver­halten, Personen und Orten (= Kontextwissen im engeren Sinne). Auf einer all­gemeineren Ebene ist landeskundliches Hintergrundwissen einzubeziehen (= Kontextwissen im weiteren Sinne): Wie gestaltet sich z. B. das deutsch-französische Verhältnis zu einem bestimmten Zeitpunkt? Wie sehen die Kon­stellationen der politischen Akteure aus, welche Handlungsmotivationen, welche Ziele, welche Positionen sind im Spiel? Wie lassen sich gegebene Entscheidungen, Stellungnahmen oder Handlungsabläufe begründen? Schließlich kommt es darauf an, auf dieser Grundlage zu einer kritischen Einordnung, zu einer problematisierenden Aus­einandersetzung bezüglich der gewählten Materialien zu gelangen. Im konkre­ten Fall: den Text Hauptmanns als nationalistisch geprägtes Pamphlet einstufen zu können. Es erübrigt sich der Hinweis, daß die genannten Ebenen und die jeweils angeführten Aspekte nicht als eindeutig abgrenzbare, in Multiple Choice-Manier abprüfbare Komponenten aufzufassen sind.


3 Scheitern im „Dialog“

Nur kurz nach der Publikation des Hauptmann-Artikels antwortet Romain Rol­land mit einem Offenen Brief im Journal de Genève vom 2.9.1914 (s. An­hang, Text (2)). Im Mittelpunkt seiner Replik stehen vor allem drei Punkte: Zum einen sei nicht die deutsche Bevölkerung für die bisherigen – als kriminell zu betrachtenden – Geschehnisse verantwortlich zu machen ((2) [2]). Zweitens wendet sich Rolland gegen die Ansicht, der Krieg sei eine Frage des Schicksals (vgl. bei Hauptmann die Passage (1) [3]), und betont das politische Versagen, die Willenlosigkeit und die mangelnde Bewußtwerdung der betroffenen Völker:
(2a) [2] [...] Ce n’est pas que je regarde, ainsi que vous, la guerre comme une fa­talité. Un Français ne croit pas à la fatalité. La fatalité, c’est l'excuse des âmes sans volonté. La guerre est le fruit de la faiblesse des peuples et de leur stupidité. On ne peut que les plaindre, on ne peut leur en vouloir. [...]
Das Hauptaugenmerk gilt schließlich jedoch einem Appell, den Rolland in aus­gesprochen massiver Form an Gerhart Hauptmann direkt richtet. Bevor es dazu kommt, wartet der Offene Brief mit einer Einleitung auf, die die grundsätzliche, jeden nationalen Haß ablehnende Haltung des Autors unterstreicht:
(2b) [1] Je ne suis pas, Gerhart Hauptmann, de ces Français qui traitent l’Allemagne de barbare. Je connais la grandeur intellectuelle et morale de votre puissante race. Je sais tout ce que je dois aux penseurs de la vieille Allemagne ; et encore à l’heure présente, je me souviens de l’exemple et des paroles de notre Gœthe — il est à l’humanité entière — répudiant toute haine nationale et maintenant son âme calme, à ces hauteurs « où l’on ressent le bonheur ou le malheur des autres peuples comme le sien propre ». J’ai travaillé, toute ma vie, à rapprocher les esprits de nos deux nations ; et les atrocités de la guerre impie qui les met aux prises, pour la ruine de la civilisation européenne, ne m’amèneront jamais à souiller de haine mon esprit.
Rolland möchte nicht sogleich in die Reihe derer eingeordnet werden, die Deut­schland oder den Deutschen pauschal Barbarentum unterstellen. Es ist daher kein Zufall, wenn er zu Beginn von intellektueller und moralischer Größe spricht und hervorhebt, in welchem Maße er sich den Denkern der « vieille Alle­magne » zu Dank verpflichtet fühlt. Ebensowenig ist es ein Zufall, wenn Rolland sich – wie übrigens zuvor auch schon Michel Bréal in seiner obigen Stellung­nahme – auf Goethe als verbindende Instanz beruft und mit dessen Worten gleichsam eine alle Grenzen überschreitende Solidarität anmahnt. Auf diese Weise kann sich der Autor als Verfechter eines europäischen Friedens posi­tionieren, der an den überkommenen kulturellen Werten festhält und die gegen­wärtige Politik der Zerstörung ablehnt. Darüber hinaus wird mit dem Verweis auf die gemeinsame Wertebasis ein Maßstab eingeführt, nach dem die aktuellen Geschehnisse zu beurteilen wären. Diese Voraussetzungen bestimmen dann auch die Kritik und die Vorwürfe, die Rolland gegenüber Hauptmann äußert:
Die Kritik umfaßt mehrere Etappen: Der erste Vorwurf richtet sich gegen den Umstand, daß mit Belgien ein Land angegriffen werde, das – wie die Deutschen in den Befreiungskriegen – lediglich seine Unabhängigkeit verteidige; das sei nicht hinnehmbar (« c’en est trop ! »), das Vorgehen sei eine Schande (« quelle honte ! »). Zudem richten sich die Angriffe nicht nur gegen das lebende Belgien, sondern mit der Zerstörung ganzer Städte vernichte man auch die Vergangen­heit (« vous faites la guerre aux morts »). Vorläufiger Endpunkt ist die vor diesem Hintergrund nur als rhetorische Frage zu verstehende Äußerung « êtes-vous les petits-fils de Gœthe, ou ceux d’Attila ? » Die hier feststellbare Zuspit­zung erscheint zwar kaum noch steigerbar, doch Rolland fährt mit einer wort­reich eingeleiteten und persönlich adressierten Aufforderung fort. Bereits die Wahl der Verben mutet ungewöhnlich an und zeugt von der Intensität des Disputs (« je m’adresse contre vous », « je vous adjure », « je vous somme »); außerdem formuliert der Autor hier im Namen Europas, der Zivilisation, der Ehre der germanischen Rasse (mit dreifachem « au nom de ») und erwartet von seinem Gegenüber letztlich, mit aller Kraft gegen das begangene Verbrechen zu protestieren:
(2d) [5] Ce n’est pas à l’opinion du reste de l’univers que je m’adresse contre vous. C’est à vous-même, Hauptmann. Au nom de notre Europe, dont vous avez été jusqu’à cette heure un des plus illustres champions, — au nom de cette civilisation pour laquelle les plus grands des hommes luttent depuis des siècles, — au nom de l’honneur même de votre race germanique, Gerhart Hauptmann, je vous adjure, je vous somme, vous et l’élite intellectuelle allemande où je compte tant d’amis, de protester avec la dernière énergie contre ce crime qui rejaillit sur vous.
Um seinem Appell weiteren Nachdruck zu verleihen, fügt Rolland abschließend noch die folgenden metakommunikativen Zusätze hinzu:
(2e) [7] J’attends de vous une réponse, Hauptmann, une réponse qui soit un acte. L’opinion européenne l’attend, comme moi. Songez-y : en un pareil moment, le silence même est un acte.
Der Offene Brief Romain Rollands an Gerhart Hauptmann schlägt in Deutsch­land ein wie eine Bombe (Cheval 1963: 302ff). In der Presse wird der Text häu­fig reduziert auf den Satz « êtes-vous les petits-fils de Gœthe, ou ceux d’­Attila ? », ohne sich dabei auf eine wirkliche inhaltliche Debatte einzulassen. Auf deutscher Seite betrachtet man vor allem den Vergleich mit Attila und den als barbarisch geltenden Hunnen als nicht annehmbare Provokation, ganz ab­gesehen von der Undankbarkeit, die man Rolland vorhält, da ja sein Roman Jean-Christophe in Deutschland sehr wohlwollend aufgenommen worden sei.
In dem Zusammenhang ist weiterhin zu berücksichtigen, daß der Offene Brief keineswegs nur die persönliche Mitteilung an einen deutschen Schriftsteller na­mens Gerhart Hauptmann darstellt. Im Gegenteil: Es geht eher darum, öffent­lich und in aller Deutlichkeit konträre Standpunkte sichtbar zu machen, Unver­einbarkeiten zu betonen, die Gegenseite bloßzustellen und so die Wirksamkeit der eigenen Argumentation zu erhöhen. Die Form des Offenen Briefs sorgt für eine Vervielfachung der Adressaten; die Mitteilung ist zwar noch persönlich adressiert, aber nunmehr einem prinzipiell unbegrenzten Leserpublikum zu­gänglich. Damit dürfte auch zusammenhängen, daß der argumentative Aus­tausch leicht in eine inszenierte Schein-Diskussion übergeht – das umso mehr, als die vertretenen Positionen sehr weit auseinanderliegen und die Chance einer Annäherung oder einer Meinungsänderung äußerst gering ist:
L’argumentation destinée à l’autre se transforme dès lors en lutte verbale donnée en spectacle à des tiers. Il s’agit d’exploiter la facture de la lettre ouverte pour feindre de s’adresser à l’allocutaire alors qu’on tente en réalité à la fois de rallier son propre camp autour d’un étendard, et de se donner raison aux yeux du monde civilisé. (Amossy 2004: 33)
Aufgrund der Mehrfachadressierung, die für öffentlich präsentierte Texte gene­rell gegeben ist, kann auch mit unterschiedlichen Bedeutungszuschrei­bungen gerechnet werden. Das Textverstehen ist nicht einfach und nicht ausschließlich eine Funktion der Äußerungseigenschaften. In Abhängigkeit vom Situationszu­sammenhang, vom jeweiligen Kontext und je nach Vorinformationen und Vorer­wartungen können Textmitteilungen anders interpretiert, bewertet und einge­ordnet werden. Diese Selbstverständlichkeit gilt ebenso für den Beitrag Romain Rollands. So gesehen, eröffnet bereits die Einleitung verschiedene Deutungs­möglichkeiten. Mag gegenüber Hauptmann noch das Bemühen anklingen, die Wertschätzung deutscher „Dichter und Denker“ zu betonen, dürfte mit Blick auf andere Adressaten die Selbstpräsentation Rollands stärker in den Vordergrund treten. Aus der Perspektive lassen sich die Äußerungen in (2) [1] auch ver­stehen als Versuch, sich als Vertreter gemeinsamer europäischer Werte, als aktiver Verfechter einer deutsch-französischen Verständigung darzustellen, als jemand, der sich nicht vorschnell verbreiteten Urteilen anschließt und nicht ein­fach einem blinden Pazifismus folgt. Es geht also darum, in der hier nun öffent­lich geführten Debatte eine möglichst parteien­übergreifende Position einzu­nehmen. Als Gesamttext kann man den Offenen Brief zwar zunächst als Appell an Gerhart Hauptmann, gegen die Kriegsver­brechen in Belgien zu protestieren, auffassen – mit der Einschränkung allerdings, daß Zweifel an der Ernsthaftigkeit dieser Aufforderung angebracht erscheinen; darüber hinaus dürfte der Text aber je nach Adressatengruppe darauf abzielen, das Vorgehen des deutschen Militärs zu verurteilen (z. B. bei deutschen Lesern), eine Unterstützung der friedenspolitischen Bemühungen zu propagieren (z. B. in der internationalen Öffentlichkeit), Mitgefühl, Empörung, Solidarität zum Ausdruck zu bringen (z. B. in Belgien) oder die Ablehnung des Krieges zu bekräftigen (z. B. bei einem gleichgesinnten Publikum). Einen Überblick über verschiedene Lesarten gibt Schaubild 2 wieder:
Abb. 4: Mehrfachadressierung
Die darauffolgende Antwort Gerhart Hauptmanns, wiederum publiziert in der Vossischen Zeitung vom 10.9.19145, bestätigt die Unmöglichkeit des Dialogs zwischen den beiden Autoren. Dies betrifft zunächst die inhaltliche Ebene; so wird ohne jede Einschränkung die These vom durch Rußland, England und Frankreich erzwungenen Krieg wiederholt ((3) [1]), und auf die von deutschen Truppen in Belgien begangenen Massaker geht Hauptmann konkret gar nicht erst ein. Es gibt lediglich mit der tautologischen Formel Krieg ist Krieg einen in­direkten Hinweis, mit dem alle Einwände und Vorhaltungen hinfällig zu sein scheinen:
(3a) [4] Krieg ist Krieg. Sie mögen sich über den Krieg beklagen, aber nicht über Dinge wundern, die von diesem Elementarereignis unzertrennlich sind.
Außerdem spricht Hauptmann – unter Verweis auf deutsche Regierungsquellen – von einem „Riesenschwall deutschfeindlicher Lügen“ ((3) [7]) und sieht bei al­lem die „französische Lügenpresse“ am Werk ((3) [5]); dazu der kommen­tierende Gemeinplatz „Der zur Ohnmacht Verurteilte greift zu Beschimpfungen“ ((3) [6]).6
Nicht minder schwer wiegen die persönlichen Vorbehalte, die Hauptmann vor­bringt:
(3b) [2] [...] Sie haben an der Versöhnung beider Völker mit Eifer gearbeitet. Trotzdem sehen Sie jetzt, wo der blutige Riß auch Ihr schönes Friedens­konzept, wie so viele andere, vernichtet hat, unser Land und Volk mit französischen Augen an: und jede Mühe wird ganz gewiß vergeblich sein, Sie deutsch- und klarblickend zu machen.
[3] Natürlich ist alles schief, alles grundfalsch, was Sie von unserer Regie­rung, unserem Heer, unserem Volke sagen. Es ist so falsch, daß mich in dieser Be­ziehung Ihr offener Brief wie eine leere, schwarze Fläche anmutet.
Rolland sei, so Hauptmann, aufgrund seiner „französischen Augen“ gar nicht zu einem neutralen Blick in der Lage und Hoffnungen, ihn „deutsch- und klarbli­ckend zu machen“, seien „ganz gewiß vergeblich“. Insofern fehle den Aussagen jede Glaubwürdigkeit, es sei „alles schief, alles grundfalsch“ und der Offene Brief „wie eine leere, schwarze Fläche“. Die wechselseitige Ablehnung und die Gegensätzlichkeit der Positionen könnten kaum größer sein.
Es erübrigt sich daher fast der Hinweis, daß auch mit den folgenden Stel­lung­nahmen keine Annäherung mehr erreicht wird, weder zwischen Rolland und Hauptmann noch zwischen anderen Autoren, die vergleichbare Auseinan­dersetzungen führen. Romain Rolland veröffentlicht einige Tage später, am 22.9.1914, einen längeren Beitrag im Journal de Genève unter dem Titel « Au-dessus de la mêlée ».7 Hier wendet er sich vor allem an das „junge Europa“, über die nationalen Grenzen hinaus, analysiert kritisch die nationalistische Propaganda, verurteilt die Haltung der Staatschefs, wenn es darum geht, Ver­antwortung zu übernehmen (« chacun s’efforce sournoisement d’en rejeter la charge sur l’adversaire » (2013: 68)), und kommt zu der Folgerung: « Entre nos peuples d’Occident, il n’y avait aucune raison de guerre. » (2013: 74) Für die Hoffnung, daß sich jenseits des nationalen Hasses und der ausgetragenen Feindseligkeiten bald wieder ein Geist der Brüderlichkeit und der Solidarität herausbilden könnte, sieht Rolland selbst jedoch nur geringe Chancen der Ver­wirklichung:
« Je sais que de telles pensées ont peu de chances d’être écoutées, aujourd’hui. » (2013: 79)
Nimmt man die angeführten Zitate und Einlassungen von Henri Bergson bis zur letztgenannten Stellungnahme von Romain Rolland zusammen, bleibt als Fazit nur die Feststellung extrem verfestigter Positionen und mehrfach blockierter Dialogversuche:
Abb. 5: Blockierter Dialog

4 Faktenabstinenz, Bildungs„ballast“

Die Besprechung der in den Abschnitten 2 und 3 herangezogenen Dokumente veranschaulicht einmal mehr, in welchem Maße das Textverstehen von mehr­dimensionalen und mehrdeutigen Sinnzuschreibungen geprägt ist. Dieser offen­kundigen inhaltlichen Komplexität, zu­mal dann, wenn auch historische Zusam­menhänge angesprochen werden, können die Kom­petenzstandards des GeR kaum gerecht werden. Es ist besonders das Abstrahieren von allem Inhaltli­chen, was ein reduziertes, stark auf die sprachliche Oberfläche bezogenes Text­verstehen begünstigt. Hierzu nochmals eine aufschlußreiche Kompetenz­angabe zum Leseverstehensbereich „Information und Argumentation verste­hen“:
C1 / C2: Kann ein weites Spektrum langer, komplexer Texte, denen man im gesell­schaftlichen, beruflichen Leben oder in der Ausbildung begegnet, verstehen und dabei feinere Nuancen auch von explizit oder implizit angesprochenen Einstel­lungen und Meinungen erfassen. (GeR 2001: 76)
Solche Deskriptoren bleiben vage, es fehlt ein wie auch immer gearteter The­menbezug. Genannt werden lediglich allgemeine Kommunikationsformen (z. B. „Korrespondenz lesen und verstehen“, „Schriftliche Anweisungen verstehen“, „Muttersprachliche Gesprächspartner verstehen“ ...) oder bestimmte mediale Präsentationsweisen (z. B. „Fernsehsendungen und Filme verstehen“). Kom­munizieren ohne Inhalte ist jedoch schwierig, das dürfte selbst für den small talk gelten. Eingängig hat dies bereits Armin Volkmar Wernsing formuliert:
Kompetenzen und schon ihr Erwerb sind wegen der „zugrundeliegenden Wissens­bestände“, aber auch wegen der Gegenstände, an denen sie ausgeübt werden, nie inhaltsfrei. Reiten lernt man nur mit einem Pferd, nicht mit einem Fahrrad oder einer Gabel. Und eigentlich hätte zu der Liste der Kompetenzen dann auch eine Liste der Gegenstände gehört, an denen man sie zu erwerben hat. Aber dann wäre die intellektuelle Dürftigkeit der Kompetenzpädagogik nicht zu verbergen ge­wesen, die etwa zur nahezu tautologischen Definition des Leitziels der inter­kulturellen Handlungsfä­higkeit als „kompetenten Umgang“ führt. (2016: 19; vgl. auch Wernsing 2008: 376)
Wie bereits eingangs betont, lassen sich Sprache und Kultur nicht einfach tren­nen, auch wenn sich Meßbarkeit und Evaluierbarkeit dabei bisweilen weni­ger entfalten lassen. Die zugegebenermaßen recht spezielle Thematik der bishe­rigen Ausführungen hat exemplarisch verdeutlicht, was bei der Einordnung von Ereignissen und Sachverhalten, der Bewertung von Interessen, Positionen und Entwicklungen sowie bei der Erklärung von Vielschichtigkeit und Mehrfach­adressierung von Textinformationen zu berücksichtigen ist. Für das Verständnis von Anspielungen ist nicht selten die Kenntnis „harter Fakten“ unerläßlich. Der Zusammenhang von Textverstehen und kulturellem Wissen wird in Abb. 6 zu skizzieren versucht:
Abb. 6: Textverstehen und kulturelles Wissen
Dabei zeigt sich, daß ein solcher Zusammenhang nichts Abgeschlossenes ist, sondern prinzipiell in verschiedene Richtungen vertieft werden kann. So ließe sich im vorliegenden Fall der „Dialog“ zwischen Gerhart Hauptmann und Ro­main Rolland um zusätzliche, mehr oder weniger direkt anschließende Stellung­nahmen erweitern und um Perspektiven anderer Protagonisten und anderer Länder ergänzen.
Ohne die Relevanz der Ausbildung sprachpraktischer Fertigkeiten gering­schätzen zu wollen – hier liegt ohne Frage eine der Stärken des GeR –, stellt die inhaltliche Beliebigkeit, der Verzicht auf soziopolitische und historische Aspekte, ein großes Manko dar. Und über die Abkehr von bewährten Bildungs­zielen kann auch der Umstand nicht hinwegtäuschen, daß Kompetenzstandards – allen Entfachlichungs- und Entkulturalisierungs­tendenzen zum Trotz – auf allen Ebenen gezielt als Bildungsstandards etikettiert werden. Um den inhalt­lich-kulturellen Erosionsprozeß zu rechtfertigen bzw. schönzureden, wird, spe­ziell von bildungstechnokratischer Seite, allzu oft eine Ballast-Metaphorik be­müht, wonach Studien- und Lehrpläne konsequent zu „entschlacken“, „abzu­specken“, zu „entrümpeln“ oder zu „verschlanken“ seien. Einen treffenden und prägnant resümierenden Kommentar zu dieser unbedachten, nichtsdesto­weniger zielgerichteten Niveauverflachungs-Rhetorik liefert wiederum Wern­sing:
Wie die nicht widerlegte, sondern einfach geschredderte Bildungs-Philosophie nicht mit fliegenden Fahnen, sondern sang- und klanglos unterging, gegen die Ökonomie ausgetauscht wurde, aus der Mode kam, und das innerhalb weniger Jahre, das ist ein überaus rätselhafter Vorgang, bei dem die Europäische Union eine unrühmliche Rolle spielt. Wie konnte man sich von Leerformeln und Contai­nerbegriffen wie etwa „Leseverstehenskompetenz“ (ohne Angabe der Texte, an denen sie wirksam werden soll) beschwatzen lassen? (Wernsing 2016: 20) 8
Es wäre zweifellos naiv, die verordnete Kompetenzorientierung und die damit einhergehende Vernachlässigung landeskundlicher und literarischer Lernziele als zufällig und nur fremdsprachendidaktisch motiviert sehen zu wollen. Die In­tegration von Erziehungszielen in eine umfassendere wirtschaftspolitische Ent­wicklung weist – mittels der Kompetenzpädagogik – detailliert Wernsing (2016) nach; auf die „Verbetriebswirtschaftlichung“ und die Einflüsse eines neo­liberalen Managements im Hochschulbereich hat zuvor bereits Knobloch (2008) hingewiesen. An politischer Kohärenz fehlt es diesen Trends zumindest nicht.

Anhang

(1) Gerhart Hauptmann: Gegen Unwahrheit!
[1] Wir sind ein eminent friedliebendes Volk. Der oberflächliche Feuilletonist Bergson in Paris mag uns immerhin Barbaren nennen, der große Dichter und ver­blendete Gallomanne Mäterlinck uns mit ähnlichen hübschen Titeln belegen, nachdem er uns früher „das Gewissen Europas“ genannt hat. Die Welt weiß, daß wir ein altes Kulturvolk sind. Die Idee des Weltbürgertums hat nirgends tiefere Wurzeln geschlagen als bei uns. Man betrachte unsere Übersetzungs-Literatur und nenne mir dann ein Volk, das sich ebenso wie wir bemüht, dem Geist und der Eigenart anderer Völker gerecht zu werden, ihre Seele liebevoll eingehend zu verstehen.
[2] Auch Mäterlinck hat bei uns seinen Ruhm und sein Gold gewonnen. Für einen Salon-Philoso­phaster, wie Bergson, ist allerdings im Land Kants und Schopen­hauers kein Platz. Ich spreche es aus: Wir haben und hatten keinen Haß gegen Frankreich: Wir haben einen Kultus mit der bildenden Kunst, Skulptur und Malerei und mit der Literatur dieses Landes getrieben. Die Wertschätzung Rodins wurde von Deutschland aus in die Wege geleitet, wir verehren Anatole France. Maupas­sant, Flaubert, Balzac wirken bei uns wie deutsche Schriftsteller. Wir haben tiefe Zuneigung zu dem Volkstum Süd-Frankreichs. Leidenschaftliche Verehrer Mis­trals findet man in kleinen deutschen Städten, in Gäßchen und Mansarden.
[3] Es war schmerzlich zu bedauern, daß Deutschland und Frankreich politisch nicht Freunde sein konnten. Sie hätten es sein müssen, weil sie Verwalter des kontinentalen Geistesgutes, weil sie zwei große durchkultivierte europäische Kernvölker sind. Das Schicksal wollte es anders. Achtzehnhundertsiebzig er­kämpften sich die deutschen Stämme die deutsche Einheit und das Deutsche Reich. Unter diesen Errungenschaften ward unserm Volk eine mehr als vierzig­jährige friedliche Epoche beschieden. Eine Zeit des Keimens, des Wachsens, des Erstarkens, des Blühens, des Fruchttragens ohnegleichen. [...]
[7] Aber Kaiser Wilhelm der Zweite, oberster Kriegsherr des Reiches, hat aus wahrhaftiger Seele den Frieden geliebt und den Frieden gehalten. Unsere exakte Armee sollte einzig der Verteidigung dienen. Wir wollten drohenden Angriffen ge­genüber gerüstet sein. Ich wiederhole: Das deutsche Volk, die deutschen Fürs­ten, an der Spitze Kaiser Wilhelm der Zweite, haben keinen anderen Gedan­ken gehabt, als durch Heer und Flotte den Bienenstock des Reiches, das fleißige, reiche Wirken des Friedens, zu sichern. [...]
[8] Der Krieg, den wir führen und der uns aufgezwungen ist, ist ein Verteidigungs­krieg. Wer das bestreiten wollte, der müßte sich Gewalt antun. Man betrachte den Feind an der östlichen, an der nördlichen, an der westlichen Gren­ze. Unsere Blutsbrüderschaft mit Österreich bedeutet für beide Länder die Selbst­erhal­tung. Wie man uns die Waffe in die Hand gezwungen hat, das mag jeder, dem es um Einsicht, statt um Verblendung zu tun ist, aus dem Depeschen­wechsel zwischen Kaiser und Zar sowie zwischen dem Kaiser und dem König von England ent­nehmen. Freilich, nun haben wir die Waffe in der Hand, und nun legen wir sie nicht mehr aus der Hand, bis wir vor Gott und Menschen unser hei­liges Recht erwiesen haben.
[9] Wer aber hat diesen Krieg angezettelt? Wer hat sogar den Mongolen ge­pfiffen, diesen Japanern, daß sie Europa hintertückisch und feige in die Ferse beißen? Jedenfalls doch unsere Feinde, die, umgeben von Kosakenschwärmen, für die europäische Kultur zu kämpfen vorgeben. Nur mit Schmerz und mit Bitterkeit spreche ich das Wort England aus. Ich gehöre zu denjenigen Barbaren, denen die englische Universität Oxford ihren Doktorgrad honoris causa verlieh. Ich habe Freunde in England, die mit einem Fuß auf dem geistigen Boden Deut­schlands stehen. Haldane, ehemals Kriegsminister, und mit ihm zahllose Eng­länder traten regelmäßige Wallfahrten nach dem kleinen, barbarischen Weimar an, wo die Barbaren Goethe, Schiller, Herder, Wieland und andere für die Hu­manität einer Welt gewirkt haben. Wir haben einen deutschen Dichter, dessen Dramen, wie keines anderen deutschen Dichters, Nationalgut geworden sind: er heißt Shakespeare. Dieser Shakespeare ist aber zugleich Englands Dichterfürst. Die Mutter unseres Kaisers war eine Engländerin, die Gattin des englischen Königs ist eine Deutsche. Und doch hat diese stamm- und wahlverwandte Nation uns die Kriegserklärung ins Haus geschickt. Warum? Der Himmel mag es wissen.
[10] Soviel ist gewiß, daß das nun eröffnete bluttriefende Weltkonzert in einem englischen Staatsmann seinen Impresario und Dirigenten hat. Allerdings ist die Frage, ob das Finale dieser furchtbaren Musik noch den gleichen Dirigenten am Pult sehen wird. „Mein Vetter, Du hast es nicht gut gemeint, weder mit Dir selbst noch mit uns, als Deine Werkzeuge den Mordbrand in unsere Hütten warfen.“ Während ich diese Worte schreibe, ist der Tag der Sonnenfinsternis vorüber­gegangen. Die deutsche Armee hat zwischen Metz und den Vogesen acht franzö­sische Armeekorps geworfen, und sie sind auf der Flucht. Wer als Deutscher inmitten des Landes lebt, fühlte: es sollte, es mußte so kommen. Man legte uns einen eisernen Ring um die Brust, und so wußten wir, diese Brust mußte sich dehnen, mußte den Ring sprengen oder aber zu atmen aufhören. [...]
[11] Durch den vollständigen Sieg deutscher Waffen wäre die Selbständigkeit Eu­ropas sichergestellt. Es würde darauf ankommen, den Völkerfamilien des Kon­tinents begreiflich zu machen, daß dieser Weltkrieg der letzte unter ihnen bleiben muß. Sie müssen endlich einsehen, daß ihre blutigen Duelle nur demjenigen schmählichen Vorteil einbringen, der, ohne mitzukämpfen, sie anstiftet. Dann müssen sie einer gemeinsamen, tiefkulturellen Friedensarbeit obliegen, die Miß­verständnisse unmöglich macht.
[12] Es war in dieser Beziehung vor dem Kriege schon viel geschehen. Im fried­lichen Wettstreit fanden sich die Nationen und sollten sich noch zuletzt in den Olympischen Spielen zu Berlin finden. Ich erinnere an die Wettflüge, Wettfahrten, Wettrennen, an die internationale Wirksamkeit von Kunst und Wissenschaft und die große internationale Preisstiftung. Das Barbarenland Deutschland ist, wie man weiß, den anderen Völkern mit großartigen Einrichtungen sozialer Fürsorge vorangegangen. Ein Sieg müsste uns verpflichten, auf diesem Wege durchgrei­fend weiter zu gehen und die Segnungen solcher Fürsorge allgemein zu verbrei­ten.
[13] Unser Sieg würde fernerhin dem germanischen Völkerkreise seine Fort­existenz zum Segen der Welt garantieren. [...]
[14] Ich höre, daß man im Ausland eine Unmenge lügnerische Märchen auf Kosten unserer Ehre, unserer Kultur und unserer Kraft zimmert. Nun, diejenigen, die da Märchen fabulieren, mögen bedenken, daß die gewaltige Stunde dem Märchenerzähler nicht günstig ist. An drei Grenzen steht unsere Blutzeugen­schaft. Ich selbst habe zwei meiner Söhne hinausgeschickt. Alle diese furchtlosen deutschen Krieger wissen genau, für was sie ins Feld gezogen sind. Man wird keinen Analphabeten darunter finden. Aber desto mehr solche, die neben dem Gewehr in der Faust, ihren Goethischen Faust, ihren Zarathustra, ein Schopen­hauersches Werk, die Bibel oder Homer im Tornister haben. Und auch die, die kein Buch im Tornister haben, wissen, daß sie für einen Herd kämpfen, an dem jeder Gastfreund sicher ist.
[15] Auch jetzt hat man bei uns keinem Franzosen, Engländer oder Russen ein Haar gekrümmt oder gar, wie im Lande des empfindsamen Herrn Mäterlinck, an wehrlosen Opfern, einfachen, einsässigen deutschen Bürgern und Bürgerfrauen, grausamsten, fluchwürdigen, nichtsnutzigen, bestialischen Meuchelmord geübt. Ich gebe auch Herrn Mäterlinck speziell die Versicherung, daß niemand in Deutschland daran denkt, sich von solchen Handlungen einer Kulturnation etwa zur Nachahmung reizen zu lassen. Wir wollen und werden lieber weiter deutsche Barbaren sein, denen die vertrauensvoll unsere Gastfreundschaft genießenden Frauen und Kinder unserer Gegner heilig sind. Ich kann ihm versichern, daß wir, bei aller Achtung vor einer „höheren Gesittung“ der französisch-belgischen Zunge, uns doch niemals dazu verstehen werden, belgische Mädchen, Weiber und Kinder in unserem Land feige unter qualvollen Martern hinzuschlachten.
[16] Wie gesagt: An den Grenzen steht unsere Blutzeugenschaft, der Sozialist neben dem Bourgeois, der Bauer neben dem Gelehrten, der Prinz neben dem Arbeiter, und alle kämpfen für deutsche Freiheit, deutsches Familienleben, für deutsche Kunst, deutsche Wissenschaft, deutschen Fortschritt; sie kämpfen mit vollem, klarem Bewußtsein für einen edlen und reichen Nationalbesitz, für innere und auch äußere Güter, die alle dem allgemeinen Fortschritt und Aufstieg der Menschheit dienstbar sind.
(Vossische Zeitung 26.8.1914)

(2) Lettre ouverte à Gerhart Hauptmann
Samedi 29 août 1914
[1] Je ne suis pas, Gerhart Hauptmann, de ces Français qui traitent l’Allemagne de barbare. Je connais la grandeur intellectuelle et morale de votre puissante race. Je sais tout ce que je dois aux penseurs de la vieille Allemagne ; et encore à l’heure présente, je me souviens de l’exemple et des paroles de notre Gœthe — il est à l’humanité entière — répudiant toute haine nationale et maintenant son âme calme, à ces hauteurs « où l’on ressent le bonheur ou le malheur des autres peuples comme le sien propre ». J’ai travaillé, toute ma vie, à rapprocher les esprits de nos deux nations ; et les atrocités de la guerre impie qui les met aux prises, pour la ruine de la civilisation européenne, ne m’amèneront jamais à souiller de haine mon esprit.
[2] Quelques raisons que j’aie donc de souffrir aujourd’hui par votre Allemagne et de juger criminels la politique allemande et les moyens qu’elle emploie, je n’en rends point responsable le peuple qui la subit et s’en fait l’aveugle instrument. Ce n’est pas que je regarde, ainsi que vous, la guerre comme une fatalité. Un Français ne croit pas à la fatalité. La fatalité, c’est l'excuse des âmes sans volonté. La guerre est le fruit de la faiblesse des peuples et de leur stupidité. On ne peut que les plaindre, on ne peut leur en vouloir. Je ne vous reproche pas nos deuils ; les vôtres ne seront pas moindres. Si la France est ruinée, l’Allemagne le sera aussi. Je n’ai même pas élevé la voix, quand j’ai vu vos armées violer la neutralité de la noble Belgique. Ce forfait contre l’honneur, qui soulève le mépris dans toute conscience droite, est trop dans la tradition politique de vos rois de Prusse ; il ne m’a pas surpris.
[3] Mais la fureur avec laquelle vous traitez cette nation magnanime, dont le seul crime est de défendre jusqu’au désespoir son indépendance et la justice, comme vous-mêmes, Allemands, l’avez fait en 1813 c’en est trop ! L’indignation du monde se révolte. Réservez-nous ces violences à nous Français, vos vrais en­nemis ! Mais vous acharner contre vos victimes, contre ce petit peuple belge infortuné et innocent !... quelle honte !
[4] Et non contents de vous en prendre à la Belgique vivante, vous faites la guerre aux morts, à la gloire des siècles. Vous bombardez Malines, vous in­cendiez Rubens. Louvain n’est plus qu’un monceau de cendres, — Louvain avec ses trésors d’art, de science, la ville sainte ! Mais qui donc êtes-vous ? et de quel nom voulez-vous qu’on vous appelle à présent, Hauptmann, qui repoussez le titre de barbares ? Êtes-vous les petits-fils de Gœthe, ou ceux d’Attila ? Est-ce aux armées que vous faites la guerre, ou bien à l’esprit humain ? Tuez les hommes, mais respectez les œuvres ! C’est le patrimoine du genre humain. Vous en êtes, comme nous tous, les dépositaires. En le saccageant, comme vous faites, vous vous montrez indignes de ce grand héritage, indignes de prendre rang dans la petite armée européenne qui est la garde d’honneur de la civilisation.
[5] Ce n’est pas à l’opinion du reste de l’univers que je m’adresse contre vous. C’est à vous-même, Hauptmann. Au nom de notre Europe, dont vous avez été jusqu’à cette heure un des plus illustres champions, — au nom de cette civilisation pour laquelle les plus grands des hommes luttent depuis des siècles, — au nom de l’honneur même de votre race germanique, Gerhart Haupt­mann, je vous adjure, je vous somme, vous et l’élite intellectuelle allemande où je compte tant d’amis, de protester avec la dernière énergie contre ce crime qui rejaillit sur vous.
[6] Si vous ne le faites point, vous montrez de deux choses l’une, — ou bien que vous l’approuvez (et alors que l’opinion du monde vous écrase !) — ou bien que vous êtes impuissants à élever la voix contre les Huns qui vous commandent. Et alors, de quel droit pouvez-vous encore prétendre, comme vous l’avez écrit, que vous combattez pour la cause de la liberté et du progrès ? Vous donnez au monde la preuve qu’incapables de défendre la liberté du monde, vous l’êtes même de défendre la vôtre, et que l’élite allemande est asservie au pire despotisme, à celui qui mutile les chefs-d’œuvre et assassine l’Esprit humain.
[7] J’attends de vous une réponse, Hauptmann, une réponse qui soit un acte. L’opinion européenne l’attend, comme moi. Songez-y : en un pareil moment, le silence même est un acte.
(Romain Rolland, Journal de Genève 2.9.1914)

(3) Antwort an Herrn Romain Rolland
[1] Sie richten, Herr Rolland, öffentliche Worte an mich, aus denen der Schmerz über den (von Rußland, England und Frankreich erzwungenen) Krieg hervorgeht, der Schmerz über die Gefährdung der europäischen Kultur und den Untergang geheiligter Denkmäler alter Kunst. Diesen allgemeinen Schmerz teile ich. Allein ich verstehe mich nicht dazu, eine Antwort zu geben, die Sie mir im Geiste schon vorgeschrieben haben und von der Sie mit Unrecht behaupten, daß ganz Europa sie erwarte.
[2] Ich weiß, daß Sie deutschen Blutes sind. Ihr schönes Buch „Johann Christoph“ wird unter uns Deutschen neben dem „Wilhelm Meister“ und dem „Grünen Heinrich“ immer lebendig sein. Frankreich wurde Ihr Adoptiv-Vaterland. Darum muß Ihr Herz jetzt zerrissen, Ihr Urteil ein getrübtes sein. Sie haben an der Ver­söhnung beider Völker mit Eifer gearbeitet. Trotzdem sehen Sie jetzt, wo der blutige Riß auch Ihr schönes Friedenskonzept, wie so viele andere, vernichtet hat, unser Land und Volk mit französischen Augen an: und jede Mühe wird ganz gewiß vergeblich sein, Sie deutsch- und klarblickend zu machen.
[3] Natürlich ist alles schief, alles grundfalsch, was Sie von unserer Regierung, unserem Heer, unserem Volke sagen. Es ist so falsch, daß mich in dieser Bezie­hung Ihr offener Brief wie eine leere, schwarze Fläche anmutet.
[4] Krieg ist Krieg. Sie mögen sich über den Krieg beklagen, aber nicht über Dinge wundern, die von diesem Elementarereignis unzertrennlich sind. Gewiß ist es schlimm, wenn im Durcheinander des Kampfes ein unersetzlicher Rubens zugrunde geht, aber – Rubens in Ehren! – ich gehöre zu jenen, denen die zer­schossene Brust eines Menschenbruders einen weit tieferen Schmerz abnötigt. Und, Herr Rolland, es geht nicht an, daß Sie einen Ton annehmen, als ob Ihre Landsleute, die Franzosen, mit Palmwedeln gegen uns zögen, wie sie doch in Wahrheit mit Kanonen, Kartätschen, ja, sogar mit Dum-Dum-Kugeln reichlich versehen sind.
[5] Gewiß sind Ihnen unsere heldenmütigen Armeen furchtbar geworden! Das ist der Ruhm einer Kraft, die durch die Gerechtigkeit ihrer Sache unüberwindlich ist. Aber der deutsche Soldat hat mit den ekelhaften und läppischen Werwolfge­schichten nicht das allergeringste gemein, die Ihre französische Lügenpresse so eifrig verbreitet, der das französische und belgische Volk sein Unglück verdankt.
[6] Mag uns ein müßiger Engländer „Hunnen“ nennen, mögen Sie meinethalben die Krieger unserer herrlichen Landwehr als Attilas Söhne bezeichnen. Es ist uns genug, wenn diese Landwehr den Ring unserer unbarmherzigen Feinde zer­schmettert. Weit besser, Sie nennen uns Söhne Attilas, machen drei Kreuze über uns und bleiben außerhalb unserer Grenzen, als daß Sie uns eine emp­findsame Inschrift, als den geliebten Enkeln Goethes, auf das Grab unseres deutschen Namens setzen. Das Wort von den „Hunnen“ ist von solchen Leuten geprägt, die sich, selber Hunnen, in ihren verbrecherischen Anschlägen auf das Leben eines gesunden und kerntüchtigen Volkes getäuscht sehen, weil dieses Volk einen furchtbaren Stoß noch furchtbarer zu parieren verstand. Der zur Ohn­macht Verurteilte greift zu Beschimpfungen.
[7] Ich sage nichts gegen das belgische Volk. Der friedliche Durchzug deutscher Truppen, eine Lebensfrage für Deutschland, wurde von Belgien nicht gewährt, weil sich seine Regierung zum Werkzeug Englands und Frankreichs gemacht hatte. Dieselbe Regierung hat dann, um ihren verlorenen Posten zu stützen, einen Guerilla-Kampf ohnegleichen organisiert und dadurch – Herr Rolland, Sie sind Musiker! – die schreckliche Tonart der Kriegführung angegeben. Wenn Sie eine Möglichkeit haben wollen, durch den Riesenwall deutschfeindlicher Lügen sich hindurchzuarbeiten, so lesen Sie einen Bericht unseres Reichskanzlers vom 7. September an Amerika, lesen Sie ferner das Telegramm, das am 8. September der Kaiser selbst an den Präsidenten Wilson richtete. Sie erfahren dann Dinge, die zu wissen notwendig sind, das Unglück von Löwen zu verstehen.
(Gerhart Hauptmann, Vossische Zeitung 10.9.2014)


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1   Verwiesen sei u.a. auf die Stellungnahmen von Schröder (2005), Rössler (2007), Sieburg (2007), Wernsing (2008, 2016), Zydatiß (2008), Lüger (2013) und Blume (2015).
2  Der vorliegende Beitrag ergänzt die Ausführungen in Lüger (2016); um unnötige Wiederholungen zu vermeiden, sei auf Begriffsbestimmungen und historische Infor­mationen in diesem Text verwiesen.
3   Es scheint eine verbreitete Haltung deutscher Intellektueller zu sein, die Vorkomm­nisse in Belgien leugnen zu wollen und sie einer propagandistischen Berichterstat­tung der ausländischen Presse zuzuschreiben. Man denke nur an das „Manifest der 93: An die Kulturwelt!“ vom 4.10.1914 und an die „Erklärung der Hochschullehrer des Deutschen Reiches“ vom 16.10.1914, wo bekannte künstlerische und wissenschaft­liche Persönlichkeiten wie Rudolf Eucken, Gottlob Frege, Fritz Haber, Otto Hahn, Edmund Husserl, Karl Jaspers, Max Planck, Karl Vossler, Wilhelm Wundt und natür­lich auch Gerhart Hauptmann sich ganz im Sinne der Politik der deutschen Reichs­regierung äußern. – Selbst ein später eher pazifistisch eingestellter Autor wie Stefan Zweig tritt 1914 – z.B. in seinem Briefwechsel mit Romain Rolland – noch als vehe­menter Verfechter des deutschen Vorgehens auf, behauptet, Löwen wäre gar nicht zerstört worden, und macht für anderslautende Berichte die französische Presse ver­antwortlich (Rolland & Zweig 2014: 48ff).
4    Das vor Napoleon stehende Schaf spielt an auf die Luxemburg-Krise von 1867, auf den Versuch Frankreichs, mit dem Erwerb Luxemburgs sein Territorium zu erweitern. Der Konflikt wird schließlich mit einer von den europäischen Großmächten garan­tierten Neutralitäts-Erklärung Luxemburgs beigelegt.
5   Siehe Anhang, Text (3). Eine französische Übersetzung des Beitrags findet sich in Cheval (1963: 298-300).
6  Bereits am 26.8.1914 behauptet Gerhart Hauptmann, „daß man im Ausland eine Unmenge lügnerische Märchen auf Kosten unserer Ehre, unserer Kultur und unserer Kraft zimmert“ und erklärt negative Informationen als Märchenerzählerei (vgl. (1) [14]).
7    Der Text wird wieder aufgenommen in dem 1915 publizierten Buch Romain Rollands mit dem gleichen Titel Au-dessus de la mêlée. Eine Neuausgabe erscheint 2013; die Seitenangaben zu den Zitaten beziehen sich auf diese Ausgabe.
8   Vgl. Blume (2015: 33), der ebenfalls die Gefahr sieht, daß „im Unterricht vor lauter Standardorientierung das Wesentliche verloren zu gehen droht – der Inhalt und seine bildende Bedeutung für die Lernenden“.